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Augenoptiker in Kiew: Anpassen und helfen

Fotos: Frank Thon

Wie eine Augenoptikerkette im Krieg einfach weitermacht

Seit der Invasion Russlands am 24. Februar des vergangenen Jahres hat sich die Realität der Menschen in der Ukraine schlagartig verändert. Wir werfen einen Blick darauf, wie eine Augenoptikerkette im Herzen des Landes einfach weitermacht und so einen wichtigen Beitrag zur Gesundheitsversorgung der Bevölkerung leistet. 

10 Uhr morgens in Kiew. Umringt von Hochhäusern sehe ich ein kleines Ladenlokal, in dessen Eingangsbereich gelbe und blaue Luftballons zu Dekorationszwecken aufgehängt sind. Ich bin am Ziel. Eine von zehn Filialen der Augenoptikerkette „Modna Optika“. Das Unternehmen hat ca. 40 Beschäftigte, von denen ungefähr zehn Augenärzte sind, zwei Optikermeister und ca. 18 Verkäufer. Ja. Richtig. Augenärzte. Ein ganz wichtiger Unterschied zur Arbeitsweise der Augenoptiker in der Ukraine im Vergleich zu Deutschland liegt genau hier. Der Besuch beim Augenoptiker in der Ukraine umfasst nicht nur alle Arbeiten rund um die richtige Sehhilfe. Die Augenärzte vor Ort verschreiben auch Medikamente und stellen medizinische Diagnosen. Damit­ sind sie ein umso wichtigerer Bestandteil innerhalb der öffentlichen Gesundheitsversorgung des osteuropäischen Staates. 

Gemeinsam mit meinem Übersetzer treffe ich mich mit einer dieser Augenärztinnen. Ihr Name ist Julia Mykhailivna ­Maljowanna. Sie ist Ende 30 und übernimmt für das Unternehmen auch einen Teil der Öffentlichkeitsarbeit. Als ich das Geschäft betrete, erwartet sie uns bereits. Freundlich lächelt sie uns an. Viel Zeit hat sie nicht. Im Laden ist einiges zu tun. Ich bin ihr dankbar, dass sie dennoch für ein Gespräch zur Verfügung steht. 

Wenn nichts mehr normal ist

Und so starten wir das Gespräch mit der Frage, die wohl am meisten auf der Hand liegt: Wie hat sich die Arbeit seit der russischen Invasion am 24. Februar 2022 verändert? „Unsere Arbeit hat sich zunächst total verändert!“, beginnt sie. Am 24. selbst wurden die Läden natürlich geschlossen. Aber dann erklärt sie mir, dass bereits am 26. Februar alle Angestellten wieder gearbeitet haben. Und zwar von zu Hause aus. 

Schnell holten sie die Kontaktlinsen aus den Geschäften und nahmen sie mit in die privaten Wohnungen. „Über das Internet gaben wir bekannt, dass sich Menschen, die dringend neue Linsen benötigen, diese gratis bei uns abholen konnten“, fährt sie fort. 

Was dann kommt, ist ein weiteres Beispiel von so vielen beeindruckenden Erlebnissen mit den Menschen aus der ­Ukraine. Sie erklärt mir: „Als wir verstanden haben, dass Kiew nicht fällt, sind wir wieder ganz normal arbeiten gegangen.“ Ich hake nach und frage, ob sie und ihre Kollegen nicht über eine Flucht aus der Ukraine nachgedacht haben und kriege eine klare und unmissverständliche Antwort: „Ich habe nicht einen Moment über Flucht nachgedacht! So wie fast alle unserer Kollegen hier.“ Dabei ist ihr wichtig mir zu verstehen zu geben, dass sie die Unterschiede in der Situation der flüchtenden Menschen wahrnimmt. 

Fünf der Mitarbeiterinnen der Optikerkette flohen direkt nach der Invasion. Und das vor allen Dingen, weil sie Kinder haben. Von den Männern, die im Unternehmen ­arbeiten, floh niemand. Die fehlenden Stellen konnten sehr schnell wieder nachbesetzt werden mit Menschen aus dem Osten des Landes, die aufgrund der Kriegshandlungen nach Kiew kamen und Arbeit suchten. Sie seien, so erklärt mir Julia, besonders motiviert sich ein neues Leben aufzubauen. Vor allen Dingen sei ihnen wichtig, zu helfen. Genau dieser Geist ist es, den man hier in der Ukraine an jeder Ecke spüren kann. Dieser ganz selbstverständliche Trotz, mit dem man sich hier auch den härtesten Situationen stellt, die der Krieg von einem verlangt. Das Motto ist ganz einfach: „Anpassen und helfen.“ 

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Rabatt für Soldaten

Auch für die Soldaten hat sich das Unternehmen „Modna Optika“ etwas einfallen lassen. So liest man auf der Internetseite der Kette, dass alle Angehörigen der kämpfenden Truppe gegen Vorlage ihres Truppenausweises einen Rabatt von 30% erhalten. Bei meiner letzten Reise im November 2022 erlebte ich, wie die Stadt Kiew im Ausnahmezustand war wegen der flächendeckenden Stromausfälle, die die Metropole über Wochen begleiteten. Schon damals war mir aufgefallen, wie selbstverständlich Geschäfte Generatoren aufstellten und einfach weitermachten. Julia versichert mir, dass alle Filialen von „Modna Optika“ mit Generatoren ausgestattet seien und durchgängig arbeiteten. 

Aber wie ist es mit den ständigen Luftalarmen? „Wir arbeiten einfach weiter“, erklärt sie mir ein wenig feixend. ­Natürlich geben sie acht auf ihre Kunden. Es gibt eine ­Filiale, die eine Glasfassade hat (siehe Foto). Diese wird natürlich bei Luftalarmen geschlossen. Aber die anderen arbeiten einfach weiter. 

Versorgung bleibt bestehen

Aus meiner deutschen Sicht heraus interessiert mich, ob sich die Versorgungslage durch die Lieferanten verschärft hat. Schließlich ist die Versorgung mit Vorprodukten in Deutschland seit Beginn der Invasion ein Riesenthema. Hier vor Ort scheint das Problem allerdings nicht angekommen zu sein. „Natürlich gab es ein paar Umstellungen. Einige Lieferanten haben sich für den russischen Markt entschieden“, erklärt sie mir. Die Ausfälle konnten aber schnell und ohne große ­Probleme kompensiert werden. 

Stolz zeigt sie mir einen Katalog des deutschen Unternehmens „Rupp + Hubrach“. Der Bamberger Glashersteller sei ihr absoluter Liebling. Ob sie das nur sagt, weil ich aus Deutschland komme, frage ich sie: „Nein! Natürlich nicht!“, bekomme ich lachend zur Antwort. Die Stimmung ist nun ein wenig gelöster als zu Beginn unseres Gespräches und wir wenden uns den modischen Trends bei den Brillenmodellen zu. Während einer kleinen Führung zeigt sie mir ihr persönliches Lieblingsmodell des Herstellers „Ana Hickmann“. Derzeit lägen vor allen Dingen große Brillen im Trend. Rund oder sogenannte Oktagone. Während wir das Sortiment durch­sehen, höre ich plötzlich mehr beiläufig den Satz: „Ich war übrigens als Kind in Deutschland!“. Interessiert horche ich auf. „Mein Vater war als sowjetischer Soldat in Ostdeutschland stationiert.“ Spannende Verbindung denke ich mir. Bevor ich allerdings nachfragen kann, muss sie schon zum nächsten Kunden. Wir sollen kurz warten. Denn sie müsste uns noch etwas erzählen.  

Nachdem wir eine Weile im Wartebereich ausharren mussten, bittet uns Julia noch einmal hinein. Und so erzählt sie uns, dass sie selbst als Helferin zur Front geht und dort Augenuntersuchungen für die Frontsoldaten durchführt. Hierzu ist sie bei einer Charity-Organisation beschäftigt. Sie erklärt, dass ihr Arbeitgeber bei sehr schweren Fällen ebenfalls hilft. So stattet er Opfer in den ehemals okkupierten Gebieten, sowie Opfer, in den durch die Uberflutungen nach der Kahovka Damm Sprengung betroffenen Gebieten, mit Brillen aus. Hier vor allem Menschen, die besonders schwere Sehprobleme haben.

Nach einer guten Dreiviertelstunde verabschieden wir uns. Ich verlasse das Augenoptikgeschäft, wie so oft bei meinen Gesprächen mit den Menschen in dem kriegsgebeutelten Land, mit dem Gefühl tiefer Bewunderung. Die Resilienz im Umgang mit der Situation und die zupackende Lebensart der Menschen hier bewegen mich.

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