Handwerk: Am Puls der Zeit

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Ich bin mir sicher, wer heute eine Ausbildung zum Augenoptiker beginnt, kommt ganz schön schnell ins Staunen. Was man in den modern gestalteten Geschäften und während der von Hightech unterstützten Refraktion und optischen Anpassung einer Brille nämlich nicht sieht, ist das Handwerk, das dahintersteht.

Und dann kommen die Auszubildenden aus genau diesen schicken Läden in die Werkstätten und sehen, wie sich alles zusammenfügt – wie aus zwei Gläsern und einer Fassung im Handumdrehen eine fertige Brille wird. Vermutlich bestau­nen sie dabei einen hochmodernen Schleifautomaten, vielleicht sogar eine Fräse, und ehe sie sich versehen, kommen sie auf dem Boden der Tatsachen an. Denn was lernen Auszubil­dende in der Werkstatt zuerst? Genau, das Bröckeln.

Danach geht es an den Handschleifstein und wenn die Flachfacette sitzt, wird natürlich mit größter Sorgfalt die Spitzfacette in Angriff genommen. Und weil der Handschliff im Alltag eines Augenoptikers so eine immense Bedeutung hat, ist er natürlich auch prüfungsrelevant. Sicher sollte jeder Auszubildende mal ein Glas von Hand geschliffen haben und eine Brille von Grund auf selbst gebaut haben – einfach schon um ein Gefühl für die Materie zu bekommen. Aber wenn man davon ausgeht, dass Prüfungsthemen auf den Arbeitsalltag abzielen, dann muss man annehmen, dass wenigstens die halbe Republik ihre Gläser von Hand einschleift. Was Unsinn ist. Mal abgesehen davon, dass in vielen Betrieben gar keine Werkstatt vorhanden ist, hat man auch schlicht und ergreifend gar nicht die Zeit, um alle Brillen von Hand zu bearbeiten. Ich sage an dieser Stelle bewusst nicht, dass die Präzision fehlt, denn ich bin mir sicher, dass es noch echte Werkstattoptiker gibt, die das perfekt beherrschen – und dieses Können glücklicherweise an ihre Azubis weitergeben.

Natürlich müssen die handwerklichen Grundlagen des Berufes vermittelt werden, aber Prüfungsinhalte sollten so gestaltet sein, dass sie den tatsächlichen Aufgaben im Alltag entsprechen. Sonst ist es ein bisschen so, als ob man die Fahrschule auf dem Pferdekarren macht – nicht direkt schlecht, aber eben schon ziemlich altertümlich.

Und während wir die wertvolle Ausbildungszeit mit Tätigkeiten aus dem Mittelalter füllen, versäumen wir das moderne Handwerk zu unterrichten. Denn was nützt heutzutage ein Geselle, der zwar den Handschliff hervorragend beherrscht und auch seine Nietstifte in Perfektion feilen kann, aber leider mit den Möglichkeiten eines modernen Schleifautomaten komplett überfordert ist? Die Geräte haben heute locker den Wert eines Kleinwagens und viele Funktionen – deshalb kann man es sich am Ende einfach nicht leisten, dass jemand daran arbeitet, der nicht das volle Potenzial ausschöpfen kann.

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Wann und wie verändere ich die Facettenlage? Wann ist es sinnvoll, eine Minifacette zu nutzen? Oder wie und warum schleife ich nach Fassungskurve? Es sind schon die einfachsten Dinge, die viel zu wenig Beachtung bekommen.

Meiner Meinung nach denken wir beim Thema Augenoptik der Zukunft viel zu sehr an Optometrie und den gesundheitlichen Aspekt unseres Berufes und vergessen dabei zu oft unsere Wurzeln. Wir können noch so viele Messungen, Screening­-Teste und Refraktionen auf 0,01 dpt genau durchführen – irgendwann kommt der Moment, in dem die Brillengläser in die Fassung eingepasst werden müssen, und genau dann ist es wichtig, Mitarbeiter zu haben, die sicher wissen, was sie tun.

Werkstattbruch ist nicht nur ärgerlich, sondern vor allem sinnlos teuer. Und unsere Kunden haben es verdient, dass die Brille nicht nur hochwertig verkauft, sondern auch hochwertig verarbeitet wird. Die Mittel sind da – vielleicht schaffen wir es, dieses moderne, neue Handwerk auch in die Schulen, die Lehrwerkstätten und die überbetrieblichen Ausbildungsstätten zu bringen und den Beruf des Augenoptikers nicht nur im Laden, sondern eben auch in der Werkstatt in die Neuzeit zu hieven.

In dieser FOCUS-Ausgabe widmen wir uns dem Handwerk.

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