|

75 Jahre formstabile Hornhautlinsen

Aufmacher: michaelvaulin/stock.adobe.com

Die formstabile Hornhautlinse, wie wir sie heute kennen, feiert in diesem Jahr ihr 75-jähriges Jubiläum – eine Tatsache, die in unserer Branche nicht unbemerkt bleiben darf! Daher finden Sie in dieser FOCUS-Ausgabe einen Sonderbericht über die Geburt der formstabilen Linse, der viele interessante Fakten enthält, aber auch einige Mythen über die Geschichte der Kontaktlinsen entlarvt. Dies sind die „harten Fakten“ über „harte“ Linsen. 

Tuohy – Fakten und Mythen

Anlass dieses Textes ist der 75. Jahrestage eines Artikels, der erstmals eine Hornhautlinse beschrieben hat – die Tuohy-Linse – und der 1948 veröffentlicht wurde. Dieser Artikel beginnt mit einer Tatsache: Nach Experimenten, die 1947 durchgeführt wurden, wurde am 28. Februar 1948, im Namen von ­­Kevin M. ­Tuohy, ein Patent für eine Kunststoff-Kontaktlinse ohne Skleralzone angemeldet. Das Patent wurde am 6. Juni 1950 erteilt. Ein fantastischer, kürzlich erschienener Artikel in Contact Lens & Anterior Eye, des in London (UK) ansässigen Optometristen und Historikers ­Richard Pearson, beschreibt diese Geschichte im Detail.

Tuohy wurde am 11. Juli 1921 in New Jersey (USA) geboren. Er war das jüngste von sechs Kindern von Joseph Michael Tuohy und Deborah Abigail Tuohy, die beide in Irland geboren wurden. Im Jahr 1944 heiratete Tuohy seine zukünftige Ehefrau ­Mildred Marta Schilling, mit der er zwei Söhne hatte. Marta starb leider 1959 im Alter von 39 Jahren und 1961 heiratete Tuohy seine zweite Ehegattin Anita Behrens, mit der er einen Sohn hatte. Tragischerweise nahm sich Tuohy am 28. Oktober 1968 das Leben. Sein Grab befindet sich auf dem Holy Cross Cemetery in Culver City, Los Angeles (US). 

Pearson gelang es in seiner Veröffentlichung, drei bekannte „Fakten“ über die Erfindung der formstabilen Hornhautlinse durch Tuohy zu entkräften. Erstens war behauptet worden, dass die Erfindung der Tuohy-Hornhautlinse auf einen Herstellungsfehler zurückzuführen sei; bei der Herstellung einer Sklerallinse wäre die haptische Zone „abgefallen“, was Tuohy zur Entwicklung einer Hornhautlinse ermutigt hätte. Das ist zwar eine schöne Geschichte, aber Pearson konnte schlussfolgern, dass dies sehr unwahrscheinlich war. In der Originalveröffentlichung über die Tuohy-Linse wird sie eindeutig als bikurviges Design beschrieben und es heißt, dass „ein Bereich von etwa 1 mm am Rand der Linse auf der hinteren Oberfläche einen flacheren Krümmungsradius aufweist als die Krümmung aufgrund der Hornhautkrümmung – ­wobei der hintere Randradius 0,50 mm flacher ist als der Radius der hinteren optischen Zone“. Aufgrund des großen Durchmessers der hinteren optischen Zone wurde der Radius der hinteren optischen Zone um 0,30 mm flacher als der flachste Meridian der Hornhaut angepasst, wodurch sich eine Brechkraft der Tränenlinse von -1,50 dpt ergab. Schließlich wurde ohne jegliche Beweise die Vermutung geäußert, dass „Schuldgefühle eine Rolle bei Tuohys Selbstmord gespielt haben könnten, da sein damaliger Geschäftspartner ­Xavier Villagran immer behauptete, er sei derjenige gewesen, der den Hornhautabschnitt einer Sklerallinse verwendet habe“. Obwohl Villagran 1979 schrieb, dass „persönliches Misstrauen und Habgier unsere Beziehungen gestört und schließlich zerstört haben“, hat er nie behauptet, dass er –  und nicht Tuohy –  der Erfinder der Hornhautlinse war.

Es ist bekannt, dass die ersten Träger der Tuohy-Linse ­Kevin Tuohy selbst, seine erste Frau Marta, Xavier Villagran und ein Patient nach einer Keratoplastik waren, der „seine Skleral-Linsen bei der ersten Gelegenheit, als er seine Hornhautlinsen erhielt, wegwarf“. Seine Frau Marta war eine 7,00 dpt-Myope, Kevin Tuohy war ein 4,00 dpt-Myoper und beide hatten Sklerallinsen getragen. Ende 1947 waren in den USA etwa 12 Menschen mit Tuohy-Linsen versorgt worden. Diese Zahl stieg bis 1949 auf 1.300 und bis 1953 auf 75.000! 

Nach der Einführung der Tuohy-Linsen stieg der Verkauf von Kontaktlinsen in den USA drastisch von 50.000 Paar im Jahr 1946 auf 200.000 Paar im Jahr 1949. Während es 1950 in den USA sechs große Kontaktlinsenlabore gab, waren es 1966 bereits etwa 300 in unterschiedlichsten Größen. Zweifellos war der Erfolg der Tuohy-Linse dafür verantwortlich. Tuohy sollte unbedingt als „Vater der Hornhautkontaktlinse“ in Erinnerung bleiben.

Der Da Vinci Code entschlüsselt & Descartes

So gut wie jede Geschichte über den Ursprung von Kontaktlinsen beginnt mit einem Verweis auf Leonardo da Vinci. Es ist zwar sehr verlockend, einen der größten Köpfe aller Zeiten für die Entstehung einer Erfindung wie dieser verantwortlich zu machen, aber eine sorgfältige Überprüfung der Texte und Zeichnungen der Originalmanuskripte von da Vinci – durch den französischen Augenarzt Robert Heitz im Jahr 2003 – zeigt, dass dies höchstwahrscheinlich nicht stimmt. 

Patrick Caroline und Craig Norman berichten darüber in der Februar-Ausgabe 2020 von Contact Lens Spectrum; in diesem Artikel zitieren sie Heitz mit der Aussage, dass die berühmten Bilder von Da Vinci über das Konzept der „Kontaktlinsen“ nicht die Neutralisierung der Brechkraft illustrierten, sondern vielmehr eine Theorie beschrieben, wie Bilder von der Hornhaut zum Sehnerv entstehen. Es gibt also keinen Beweis dafür, dass Da Vinci jemals auf die Idee kam, das Sehvermögen mit einer Kontaktlinse zu korrigieren, die direkt auf den vorderen Augenabschnitt aufgesetzt wird. Ausgehend davon scheint es, als hätten wir Da Vinci in den Geschichtskapiteln der Kontaktlinsen-Lehrbücher und in den Vorlesungen für unsere Studierenden zu viel zugeschrieben. Der nächste auf der Zeitachse der Veröffentlichungen ist vielleicht der französische Philosoph und Wissenschaftler René Descartes. Etwa 120 Jahre nach Da Vinci beschrieb er ein mit Flüssigkeit gefülltes Glasröhrchen, das direkt auf das Auge gesetzt werden konnte. Am Ende des Röhrchens befand sich eine Glaslinse. Mit dieser Veröffentlichung im Jahr 1637 beschrieb Descartes in seinem „Discours de la methode, dioptrique“ im Wesentlichen das Konzept einer „Kontaktlinse“. Er schrieb diese
Arbeit während seines Aufenthalts in Amsterdam (er lebte von 1628 bis 1649 in den Niederlanden). Diese Arbeit ist Teil einer größeren Veröffentlichung, die auch das berühmte Zitat enthält: „Je pense, donc je suis“ (Ich denke, also bin ich).

Gläserne Hornhautlinsen – Kalt & Volle

Das Konzept der Kontaktlinse wurde bereits in den frühen 1800er Jahren von Thomas Young und John Herschel beschrieben, doch gibt es keinerlei Beweise für eine praktische Anwendung dieser Linsen. Die ersten gläsernen Skleral­schalen zur Korrektur des Keratokonus scheinen in den Jahren 1886 bis 1888 von Adolf Eugen Fick und Eugène Kalt eingeführt worden zu sein, während die Brüder Friedrich und Albert Müller etwa zur gleichen Zeit eine „Glasschale zum Schutz eines Auges“ herstellten. Außerdem arbeitete August Müller daran, seine eigene hohe Kurzsichtigkeit mit einer Skleralvorrichtung zu korrigieren.

Anzeige
Alcon Banner
Petrus Thier und Joseph Dallas beim „Schleifen“ von Sklerallinsen aus Glas in Budapest (HU) im Jahr 1935.

Spulen wir für den Rahmen dieses Artikels von den Skleralvorrichtungen zu den Hornhautlinsen vor: Wer kam als Erster auf diese Idee? Eine der ersten bekannten Geschichten über Hornhautlinsen aus Glas stammt vermutlich von Eugène Kalt, der 1888 ein junger Augenarzt und leitender klinischer Assistent in der Abteilung für Augenheilkunde des Hôtel-Dieu-Krankenhauses in Paris war. Aus den historischen Aufzeichnungen geht hervor, dass Kalt von 1888 bis 1893 mit geblasenen Glasschalen von 16,0 mm bis 22,0 mm experimentierte; er experimentierte aber auch mit geschliffenen Glaslinsen mit einem Gesamtdurchmesser von 11,0 mm, 11,5 mm und 13,0 mm – also mit Hornhautlinsen. 

Doch auch hier berichteten Caroline und Norman eine neue Tatsache (Contact Lens Spectrum, August 2022): Am ­­­12. ­November 1900 meldete Johann Frederic Volle das erste US-Patent auf dem Gebiet der Kontaktlinsen an. Wohlgemerkt: Es handelte sich um Hornhautlinsen aus Glas. Das war nur 12 Jahre nach der Einführung der ersten Kontaktlinsen in Europa, und es stellt sich die Frage, wie ein Klempner aus Scranton, Mississippi (USA), der keine optischen oder medizinischen Kenntnisse hatte, dazu kam, die erste Kontaktlinse der Geschichte zu erfinden und zu patentieren. Das bleibt ein Rätsel, aber es gibt ein Dokument mit genau diesem Patent, das ihm am 3. März 1903 erteilt wurde. 

Die Geschichte von Dennis England

Die Entwicklung der Kontaktlinse folgt dem Weg von geblasenen Glas-Sklerallinsen über Kunststoff-Sklerallinsen aus Polymethylmethacrylat (PMMA, umgangssprachlich auch Plexiglas, Anm. d. Red.) bis hin zu Hornhautlinsen aus Kunststoff – letztere ziemlich genau so, wie wir sie heute kennen, obwohl sich die Materialien natürlich zu Linsen mit extrem hoher Sauerstoffdurchlässigkeit entwickelt haben. Aber ist Tuohy tatsächlich der alleinige Vater der Hornhautlinse, wie oben beschrieben? Es gibt noch eine weitere Überraschung in dieser Geschichte. Tuohys Patent war zwar das erste, das erteilt wurde, aber noch vor Tuohy kam ein Herr namens Dennis England auf den Plan. Merken Sie sich seinen (vollständigen) Namen, denn er wird später in dieser Geschichte von Bedeutung sein. Es beginnt damit, dass England 1945 – drei Jahre vor Tuohy – ein Patent für eine formstabile Hornhautlinse aus Kunststoff anmeldete. England schloss 1940 sein Studium an der Ohio State University School of Applied ­Optics ab und eröffnete eine optometrische Praxis in Zanesville, Ohio (USA). Dort begann er damit, eine Hornhautkontaktlinse zu entwickeln, indem er die Mitte von geformten PMMA-Sklerallinsen ausschnitt und die Ränder abrundete. Die Werkzeuge, die er zur Herstellung dieser Linsen verwendete, bestanden aus zwei extrem scharfen Metallstiften mit einem bestimmten Abstand (7,8 mm und 11,5 mm), die in der Mitte einer Sklerallinse gedreht wurden, bis eine kleinere „Hornhautlinse“ entstand. Diese Linsen (die Sklerallinse ohne Zentrum und die kleine Hornhautlinse) und die Patentanmeldung sind im Kontaktlinsenmuseum in Forest Grove, Oregon (USA), ausgestellt. 

Das Patent wurde jedoch mehrmals abgelehnt. England bekämpfte diese Ablehnungen vor dem Patentamt, ohne Erfolg: ein frustrierendes und kostspieliges Unterfangen. Daraufhin gründete er 1968 die DMV Corporation – ­dasselbe Unternehmen, das auch heute noch unter der Leitung seines Sohnes Robert C. England tätig ist –, die in erster Linie Zubehör für das Einsetzen und Entfernen von Sklerallinsen anbieten, also eben diese, die Dennis England vor mehr als 70 Jahren durch seine Erfindung zu ersetzen hoffte. Das „D“ in DMV steht für Dennis, und die Familie ist nicht ganz erfolglos geblieben.

PMMA, Piloten & Ooglijdersgasthuis

Der letzte Teil dieser Geschichte ist die „Erfindung“ der Verwendung von PMMA für Kontaktlinsen. Sie beginnt in Deutschland im Jahr 1928, als Otto Rohm PMMA als Farbbindemittel patentieren ließ. Der Kunststoff wurde aufgrund seiner klaren optischen Eigenschaften und seines geringen Gewichts sehr beliebt. Einer der ersten Verwendungszwecke des neuen Kunststoffs war die Herstellung von Flugzeughauben, als sich der Zweite Weltkrieg am Horizont abzeichnete. Es ist jedoch ein Mythos, dass der Hauptgrund für die Verwendung von solchen Kunststoffen für Kontaktlinsen darin bestand, dass „Splitter“ aus diesen Hauben, nachdem sie von Bomben verstreut worden waren, keine Entzündungen verursachen würden. Für Intraokularlinsen mag diese Geschichte allerdings zutreffen. Es gibt jedoch Belege dafür, dass man Ende der 1930er Jahre mit PMMA als Alternative zu Sklerallinsen aus Glas experimentierte.  Zu dieser Zeit wurden eine Reihe von PMMA-Skleral-Kontaktlinsen aus Vollkunststoff auf den Markt gebracht, obwohl die historischen Aufzeichnungen laut Caroline und Norman etwas unklar sind, wem die Herstellung der ersten PMMA-Kontaktlinse zugeschrieben werden kann. Zu verschiedenen Zeiten wurden István Györffy in Ungarn, Theodore Obrig oder Ernest Mullen in den Vereinigten Staaten und Harry Birchall in den Dixey Laboratories im Vereinigten Königreich als die ersten genannt. Györffy war ein ungarischer Augenarzt, der nach dem Weggang von Joseph Dallos nach London im Jahr 1937 die Kontaktlinsenabteilung des Augenkrankenhauses und der Augenklinik in Budapest übernahm. Im Frühjahr 1938 entdeckte er den Kunststoff Plexiglas und konnte noch im selben Jahr sklerale Kontaktlinsen aus PMMA herstellen und anpassen.

Dutch Journal of Medicine – 83 III 33 – 19 Augustus 1939 über ­„Kontaktglazen“ aus Kunststoffen.

Etwa zur gleichen Zeit beschrieb Petrus Thier in den Niederlanden zusammen mit Professor Weve, wie sie Kunststoff für Sklerallinsen verwendeten, mit dem Hauptvorteil, dass er nur die Hälfte des Gewichts von Glas hat. In einer von Pearson im Dutch Journal of Medicine (1939) gefundenen Veröffentlichung wird erklärt, wie vorteilhaft dies ist und dass sich PMMA „durch die Temperatur des Auges an die Form der Augenoberfläche anpassen kann“ (etwas, wozu Glas offensichtlich nicht in der Lage ist). Sie erklärten auch, dass sie seit „etwa drei Jahren“ mit diesem Material arbeiteten, so dass sein Ursprung im Grunde auf das Jahr 1936 zurückgehen würde.

Laut Pearson ist dies möglicherweise der erste Bericht über die Verwendung von Kunststoff („harsproducten“, wie sie es nennen, aber sie beziehen sich direkt auf ­„perspex“ als Name des Materials) an menschlichen Augen in einer wissenschaftlichen Zeitschrift.

Schlussbemerkung

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es nicht die „eine“ Geburt der Kontaktlinsen oder gar der Hornhautlinsen gibt. Die Geschichte der Kontaktlinsen nahm einen langen und kurvenreichen Weg von der allgemeinen Beschreibung des Konzepts über geblasene Glasschalen zur Korrektur von Hornhautunregelmäßigkeiten bis hin zu rezeptpflichtigen Sklerallinsen: zuerst Glas, dann Kunststoff und schließlich Linsen mit kleinerem Durchmesser (Hornhautlinsen). Die „Erfindung“ der Sklerallinsen aus Kunststoff war von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung von Kontaktlinsen: Nur wenige Jahre nach der ersten Verwendung des leichteren Kunststoffmaterials wurden Hornhautlinsen aus Kunststoff entwickelt. Trotz alledem und obwohl es bis zu einem gewissen Grad willkürlich sein mag, scheint jetzt ein wirklich guter Zeitpunkt zu sein, um die „Geburt“ der Hornhautlinsen, wie wir sie kennen, zu feiern, die einen so bedeutenden Einfluss auf so viele Leben hatte und hat, sowohl in unserem Beruf als auch in unserer Branche.

Quellen: Caroline, Norman. Contact Lens Spectrum History of Contact Lenses Series: February 2020/April 2020/June 2020/August 2020/April 2022. Efron – Contact Lens Practice, Third Edition Nathan Efron (editor) Elsevier. Phillips, Speedwell. Contact Lenses, 6th Edition. Anthony J. Phillips & Lynne Speedwell (editors) Elsevier. Bowden – Contact Lenses. The Story. Bower House Publications. 2009. https://en.wikipedia.org/wiki/Dioptrique. Pearson – The 75th anniversary of the Tuohy corneal contact lens: A review. Contact Lens and Anterior Eye Febr 2023.

Ähnliche Beiträge