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Myopie-Management baut auf Grundlagenforschung

Arnaud Ribadeau Dumas. Bilder: Silke Sage

Interview mit Arnaud Ribadeau Dumas von EssilorLuxottica

Im Februar 2022 hat EssilorLuxottica mit Essilor Stellest nach mehrjähriger Forschung ein Brillenglas zur Verlangsamung der Myopie-Progression auf Basis der H.A.L.T.-Technologie (Highly Aespherical Lenslet Target) auf den deutschen Markt gebracht und auch seitdem weiterhin an der Myopie-Forschung mitgewirkt. FOCUS hat auf der Mido 2024 in Mailand den EssilorLuxottica-Stand besucht und mit Arnaud Ribadeau Dumas, Head of Myopia­, über den Stand der Forschung und die Marktentwicklung dieses Brillenglases in Deutschland gesprochen. 

FOCUS: Was gibt es Neues im Bereich der Myopie-Forschung?

Ribadeau Dumas: Auf dem Gebiet der Myopie-Forschung gibt es mehrere Blickwinkel. Der vorrangigste ist unserer Meinung nach die Grundlagenforschung. Wir müssen verstehen, was die Ursachen sind. Was sind die Mechanismen, die das Auge wachsen lassen, so dass wir verstehen, wie wir das Problem an der Wurzel behandeln können. Daran arbeiten wir. Es ist noch zu früh, unsere Forschungsergebnisse bekannt zu geben, aber wir wollen noch in diesem Jahr zumindest einige Teile davon veröffentlichen. Wir planen, unsere Fünfjahresergebnisse zu Essilor Stellest auf der ARVO (Association for Research in Vision and Ophthalmology) im April vorzustellen.

FOCUS: Worin unterscheidet sich ihr Brillenglas von anderen Brillengläsern für das Myopie-Management?

Ribadeau Dumas: Mit dieser Frage befinden wir uns auch im Bereich der Forschung. Wir arbeiten derzeit an einer ­Therapie-Kombination. Wir können sagen: Neun von zehn Kinder, die Essilor Stellest verwenden, haben ein Augenwachstum, das dem eines emmetropen Auges entspricht oder darunter liegt. Nach den Forschungsergebnissen, die wir in der zweiten Hälfte des Jahres 2023 veröffentlicht haben, entwickelt sich bei 10% von ihnen jedoch die Myopie weiter. In diesen Fällen kombinieren wir unser Glas in Studien mit Atropin oder mit mehr Bewegung oder mehr Zeit im Freien usw. Wir messen die gesamte in Innenräumen und im Freien verbrachte Zeit, um die Wirksamkeit von Essilor Stellest zu erhöhen.

Für die Zeit, in der Kinder draußen spielen, bringen wir mit Essilor Stellest Sun dieses Jahr auch eine Sonnenbrille auf den Markt: Ein neues Produkt mit einer Auswahl an verschiedenen Farben.

FOCUS: Beobachten Sie bei Ihren Forschungen Unterschiede von Land zu Land? In manchen Ländern dürfen Optometristen zum Beispiel Atropin verwenden, in anderen nicht.

Ribadeau Dumas: Ja, das ist richtig. In China gibt es viele Kombinationen, in Italien wird die Kombination von Augenärzten durchgeführt, im Vereinigten Königreich ist es komplexer. Es hängt also wirklich von Land zu Land ab. Aber aus der Studie, die wir mit den Kindern durchgeführt haben, die bereits die beiden Produkte verwenden, geht hervor, dass der Goldstandard des Protokolls darin besteht, mit Gläsern zu beginnen, nach sechs Monaten eine Kontrolle durchzuführen und die tatsächliche Länge zu messen und das Längenwachstum mit dem altersüblichen Wachstum eines emmetropen Auges zu vergleichen. Falls das Wachstum immer noch zu schnell ist, sollte mit Atropin kombiniert und der Test nach sechs Monaten wiederholt werden. Das sind die Therapien, die zunehmend in China, in Italien und überraschenderweise auch in Indien angeboten werden. 

FOCUS: Bei Ihren Studien nutzen Sie zwei verschiedene Glasdesigns. Welche sind das?

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Ribadeau Dumas: In der Gruppe haben wir heute zwei Designs, die von uns vertrieben werden. Das eine sind die Mikrolinsen mit einem hoch-asphärischen Linsendesign, das ein Lichtvolumen vor der Netzhaut erzeugt. Die andere Technologie ist die DOT-Technologie, kurz für Diffusionsoptik-Technologie. Das Prinzip besteht darin, das Licht auf dem Brillenglas mit kleinen Punkten zu streuen. Durch den Streueffekt wird der Kontrast, der auf der Netzhaut ankommt, verringert. Das basiert auf der Theorie, dass die Netzhaut wächst, weil einige ihrer Zellen auf einen hohen Kontrast überreagieren und dies in der Regel mit übermäßigem Wachstum der Augäpfel zusammenhängt. Wir vertreiben diese beiden Produkte, vor allem in China, wo der Markt vielseitiger ist, und haben beobachtet, dass einige der Kinder, die auf eine der beiden Technologien nicht reagieren, bei Umstellung auf die andere Technologie reagieren. Empirisch gesehen können wir also feststellen, dass, wenn eine Technologie nicht funktioniert, die andere sehr wohl funktionieren kann und es daher gut ist, zwei Lösungen zu haben.

FOCUS: Denken Sie, dass eine Kombination aus Brille für den Alltag und Kontaktlinsen für Freizeit und Sport der Kinder für das Myopie-Management geeignet ist?

Ribadeau Dumas: Ja, das ist eine gute Idee. Wir haben einige Tests durchgeführt und verkaufen die beiden Produkte in China. Ärzte empfehlen, tagsüber oder in der Schule Brillen zu tragen und Kontaktlinsen, wenn die Kinder aktiver sind, beispielsweise wenn sie Sport treiben, am Wochenende oder über Nacht als Ortho-K. Wir glauben auch, dass das gut ist, weil sich das Auge wahrscheinlich an einige Effekte gewöhnt. Die Tatsache, dass man die Technologien wechselt, kann also eine höhere Wirksamkeit haben, doch das ist noch nicht bewiesen. Aber es gibt definitiv keine Einschränkungen bei der Kombination von Brillengläsern und Kontaktlinsen.

FOCUS: Wie hat sich Stellest im deutschen Markt etabliert?

Ribadeau Dumas: Auf dem deutschen Markt geht es im Vergleich zu den anderen Märkten in Europa recht langsam voran. In Großbritannien, Frankreich und Italien hat es in den vergangenen ein, zwei Jahren eine enorme Beschleunigung gegeben, während der deutsche Markt zu Beginn ein wenig langsam war. Ich war diese Woche mit dem deutschen Team in München, wo wir eine umfassende Marktanalyse durchgeführt haben, und wir haben einen Plan entwickelt, um verstärkt mit den Ärzten zusammenzuarbeiten, damit die Verschreibung mehr in Richtung Myopie-Management-Lösungen geht, selbst wenn es nur ein Vermerk in der Refraktion und der Verschreibung ist. Unsere Teams im Groß- und Einzelhandel haben sich voll und ganz dem Ziel verschrieben, so vielen Menschen wie möglich eine Myopiebehandlung anzubieten, je nach ihrem Myopieprofil und ihrem Risikofaktor. Das Jahr 2024 ist also für uns das Jahr der Myopiebehandlung in Deutschland.

FOCUS: Wäre diese Art der Brillenversorgung nicht auch ein Thema für Krankenkassenleistungen? Krankenkassen zahlen viele fragwürdige Leistungen, aber das gute Sehen sollte eine hohe Priorität haben.

Ribadeau Dumas: Da stimme ich Ihnen völlig zu. Die Art und Weise, wie wir in den Markt von China gekommen sind, begann mit einer Studie der Universität Peking am Lehrstuhl für öffentliche Gesundheit, in der die Auswirkungen der Myopie auf die Gesellschaft, auf das Lernen, auf die Kosten für das Gesundheitssystem usw. untersucht wurden. Daraus wurde eine Doktorarbeit, die zu einem Weißbuch wurde, das schließlich auf dem Schreibtisch der Regierung landete, bei den Ministerien für Bildung, Gesundheit und Familienplanung. Und es wurde zu einer Priorität der Gesundheitspolitik, die auf der Grundlage dieser Studie Beschlüsse gefasst hat.

Ich bin davon überzeugt, dass alle Akteure zusammenarbeiten müssen. Wir sollten unsere Anstrengungen bündeln, um die Krankheitslast zu verstehen, d.h. die kurz- und langfristigen Kosten der Myopie und alle Pathologien, die mit der Myopie zusammenhängen und zur Entwicklung einer Retinopathie führen können, damit wir verstehen, wie wir sie zukünftig vermeiden können. Dies sollte dann als Priorität für die öffentliche Gesundheitspolitik und auch für die Privatversicherungen eingeführt werden. Eine solche Studie muss jedoch unabhängig sein. Sie muss in Auftrag gegeben oder von Universitätsprofessoren der Augenheilkunde und des öffentlichen Gesundheitswesens durchgeführt werden. Patientenvereinigungen und Industrieverbände könnten dabei aber den Weg weisen.

FOCUS: Danke für das Gespräch.

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