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Pionierin: Dr. Anna Estelle Glancy

Bild: ZEISS/Optical Heritage Museum, Southbridge (USA)

Ein Leben für die Wissenschaft

Sie war eine Mathematikerin, Astronomin und hat für die Brillenoptik herausragende Ideen entwickelt –
Dr. Anna Estelle Glancy (1883–1975) entwarf 1923 bzw. 1924 das erste Patent für ein Gleitsichtglas, nahezu 50 Jahre vor der Marktreife solcher Gläser. In einer männerdominierten Branche setzte sie sich durch und prägte die moderne Augenoptik nachhaltig – auch wenn ihre Beiträge lange im Schatten blieben.

Lange bevor die ins kollektive Bewusstsein eingegangene Geschichte des französischen Gleitsichtglases seinen Anfang nahm, forschte eine Frau zu den Möglichkeiten von Mehrstärken-Optiken in einem Brillenglas. Und das in einer Zeit, in der es alles andere als üblich war, dass Frauen überhaupt studierten, noch darüber hinaus in der Physik. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts öffneten sich amerikanische Universitäten langsam auch für Frauen – ein Erfolg der Frauenrechtsbewegung, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts neben dem Wahlrecht auch Bildung und Berufstätigkeit einforderte. Zwar hatten einzelne Pionierinnen bereits zuvor wissenschaftliche Leistungen erbracht, doch blieben sie Ausnahmen.

Frühe Leidenschaft: Astronomie und Mathematik

Anna Estelle Glancy, geboren im Jahr 1883 in Waltham, Massachusetts, gehörte zu den ersten Frauen, die regulär studieren konnten – und noch dazu einen Doktortitel ­erwarben. 1905 schloss sie ihr Mathematikstudium am ­Wellesley College ab und 1913 promovierte sie in Astronomie an der University of California, Berkeley. Während ihres Studiums arbeitete sie am Lick Observatory, fotografierte u.a. den Kometen Morehouse – und gilt als erste Frau, die dort eigenständig Forschung betrieb. 

Gemeinsam mit ihrer Zimmergenossin Phoebe Waterman gehörte sie zu den ersten Frauen, die in Berkeley den PhD in Astronomie erlangten. Waterman regte an, nach der Promotion gemeinsam eine Anstellung zu suchen. Glancy reagierte mit einem lakonischen, aber bezeichnenden Satz: „Wer würde zwei Frauen wollen?“ – ein Spiegelbild der Vorbehalte gegenüber Wissenschaftlerinnen in jener Zeit.

Trotz dieser Skepsis fanden die beiden eine Anstellung am Argentine National Observatory in Córdoba. Während ­Waterman nach kurzer Zeit wieder ging, blieb Glancy mehrere Jahre. Erst 1918, während des Ersten Weltkriegs, kehrte sie in die USA zurück.

Skizzen aus der Patentanmeldung von A.E. Glancy, „Ophthalmic Lens“, eingereicht am 19. Mai 1923.

Vom Kosmos zur Optik

In der Astronomie fehlten ihr jedoch geeignete Karrierechancen, da Männer für ausgeschriebene Stellen stets bevorzugt wurden – sie beschloss nach einer längeren Pause, noch einmal von vorne anzufangen. 1918 wechselte sie zur American Optical Company (AO) in Southbridge, Massachusetts. Dort führte sie zunächst komplexe mathematische Berechnungen für optische Designs durch. Diese Arbeit brachte sie in den 1920ern mit Dr. Edgar D. Tillyer zusammen. Ihre Berechnungen trugen entscheidend zur Entwicklung der sogenannten Tillyer-Linse bei. Ebenso geht die Entwicklung einer frühen Form des Scheitelbrechwert­messers auf diese Zusammenarbeit zurück – was damit aufgrund seiner Erschwinglichkeit und Serienproduktionsfähigkeit die Augenoptikbranche revolutionierte. 

Das Patent – ein Papierwerk

1923 meldete sie das erste Patent für ein progressives Brillenglas an, hier war es lediglich als „Ophthalmic Lens“ betitelt. Dies fand rund ein halbes Jahrhundert statt, bevor solche Gläser kommerziell akzeptiert wurden. Somit beginnt die Geschichte des Gleitsichtglases nicht mit der Erfindung des Varilux-Glases durch Bernard Maitenaz im Jahr 1953, sondern sehr viel früher. 

In der Patentschrift beschreibt die Physikerin ihr Vorhaben und untermauert es mit Berechnungen und Skizzen. Außerdem kommt sie zu dem Schluss, dass ihre Erfindung bereit sei, kommerziell gefertigt zu werden. Genauer heißt es darin: „Ein Aspekt der vorliegenden Erfindung ist es, ein optisches Glas zu produzieren, das eine Mehrzahl an Stärken aufweist, sowohl für das Lesen, die Ferne und die Zwischenentfernungen. Außerdem wird dieses multifokale Glas aus einem Stück gefertigt ohne Segmente. Des Weiteren ist das Glas frei von sämtlichen Oberflächenastigmatismen an allen Punkten.“ 

Doch Glancys Brillenglas kam nie auf den Markt. American Optical war zu dieser Zeit stark damit beschäftigt, ein Konkurrenzprodukt zum Punktal-Glas von Zeiss zu entwickeln. Zudem galten die unvermeidbaren Abbildungsfehler eines Gleitsichtglases als zu störend für die damaligen Sehgewohnheiten.

Und so blieb Glancys Patent ein Papierwerk – aber eines, das Jahrzehnte später wieder auftauchte. Als Bernard Maitenaz in den 1950er-Jahren an Varilux arbeitete, fand er in der ­Patentrecherche Glancys Schrift und verwies ausdrücklich auf ihre Arbeit.

Meilensteine in der Brillenoptik

Neben vielen maßgeblichen Berechnungen für verschiedene Arten optischer Brillengläser, zu denen Bifokal, Trifokal und auch Kataraktgläser gehörten, war sie auch an der Entwicklung von Optiken für Mikroskope und Kameras oder später auch für Fernseher beteiligt. Dr. Anna Estelle Glancy war in den USA die erste Frau, die in diesem Gebiet arbeitete und blieb es auch bis zum Ende ihrer 33-jährigen Karriere.

Obwohl viele Details ihres Lebens im Dunkeln liegen, ist eines klar: Dr. Anna Estelle Glancy war eine außergewöhnliche Wissenschaftlerin mit Ideen, die ihrer Zeit weit voraus waren. Sie führte komplexe Berechnungen ohne Computer durch und legte den Grundstein für moderne Brillengläser und deren Vermessung.

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