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Smart Glasses: Raus aus der Nische

Foto: lev dolgachov/stock.adobe.com

Zwischen Medizinanwendung und schöner neuer AR-Welt

Die Zukunft sogenannter Smart Glasses schien 2014 beendet. Google scheiterte mit seiner Vorzeige-Datenbrille und verabschiedete sich mit diesem durchaus Consumer-tauglichen Produkt erst einmal vom öffentlichen Markt. Eine kleine Tech-Sonderschau auf der internationalen Augenoptikfachmesse Silmo zeigte acht Jahre später eindrucksvoll: Durch neue Fertigungsverfahren und Softwareentwicklungen oder Anbindung ans Smartphone durch Apps entstehen gerade neue Produktwelten rund um diese Brillengattung für die Bereiche Industrie, Lifestyle und Medizin. Wird 2023 das Jahr, in dem Smart Glasses die Basis für einen langfristigen Markterfolg setzen können?

Der Markt für Smart Glasses ist in Bewegung geraten. Das ist eine nachvollziehbare Tendenz im Rahmen der rasch fortschreitenden digitalen Transformation, die unsere Gesellschaft und die Industrie gerade erfasst. Besonders die Möglichkeiten der Virtuellen (VR) und Augmented Reality (AR) werden zunehmend durch neue Technologieentwicklungen getragen.

Konsumentenanwendungen werden zunehmend interessanter

Im Laufe des vergangenen Jahres wurden diverse Prototypen und fast fertige Smart Glasses-Produkte präsentiert. So viele wie nie zuvor. Keine Frage, es tut sich was in diesem Marktsegment. Das zeigte unter anderem die Silmo Paris im September, die ein Portfolio an Produkten und deren Möglichkeiten dem augenoptischen Fachpublikum präsentierte und damit ein Statement in Richtung Zukunft setzte. 

Wie wichtig das Thema für die Branche gesehen wird, zeigt beispielsweise das Investment von Fielmann Ventures, der ­Venture- und Investitionseinheit der Fielmann-Gruppe, am i­sraelischen Deep-Tech-Unternehmen Deep Optics, dem Erfinder und Pionier von Brillen mit dynamischem, optischem Fokus.

Das Deep-Tech-Unternehmen mit Sitz in Petah Tikva, Israel, entwickelt in der Elektro-Optik eine sogenannte disruptive Brillenglas-Technologie: Flüssigkristalllinsen können die optische Wirkung der Brillengläser an jede Entfernung anpassen. Vorteil der patentgeschützten Technologie soll sein: Im Vergleich zu Brillen mit herkömmlichen Gleitsichtgläsern profi­tierte der Brillenträger von einem deutlich größeren Sichtfeld. Laut Fielmann habe die Technologie nicht nur das Potenzial, den Markt für Brillengläser grundlegend zu verändern, sondern biete außerdem spannende Anwendungen für Smart Glasses.

AR hilft in der Medizin

Ein Anwendungsgebiet für Smart Glasses mit Zukunfts­potenzial ist die Ophthalmologie mit der Zielgruppe AMD-Betroffene. Laut Gutenberg-Gesundheitsstudie (Gutenberg Health Study – GHS) beträgt in Deutschland bezogen auf die Gesamtbevölkerung der Anteil der Menschen mit AMD in Spätstadien 0,59% (also ca. 488.000 Betroffene) und der ­Anteil der Menschen mit AMD in Frühstadien 8,43% (also ca. 6.981.000 Betroffene).[1] 

An diesen europa- und weltweiten Multi-Millionen-Patientenmarkt angelehnt, wurde aktuell von der Consumer ­Electronics Show CES in den USA ein  Innovationspreis 2023 unter der Rubrik „Wearable Technologies“ an eine smarte Brille verliehen. Ausgezeichnet wurde die Arges Smart AR-Brille für Sehbehinderte von CELLiCO. Die Brillen wurden für Menschen entwickelt, die an AMD leiden. Diese Augenkrankheit verschleiert bekanntlich das zentrale Sehen, was es schwierig macht, Gesichter zu sehen, zu lesen, Auto zu fahren oder sogar grundlegende Aufgaben wie Kochen auszuführen.

Die Brille verwendet eine kleine 4K-Kamera und eine mobile App, um Bilder in Echtzeit aufzunehmen und zu verarbeiten. Die Bilder sollen dem Brillenträger dann in Form einer Augmented-Reality-Darstellung wieder angezeigt werden. In diesem Prozess verlagere man das zentrale Sehen in das ­periphere Sichtfeld der AMD-Patienten, die so ihr verlorenes Sehvermögen wiedererlangen sollen.

Die gleiche Zielgruppe haben übrigens auch die auf der Silmo präsentierten Low Vision-Brillen des französischen Anbieters Light Vision.

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Revival der Datenbrille für Konsumenten – diesmal nur schöner

Beispiele für weitere Konsumentenanwendungen sind Smart Glasses mit Verbindung zum Handy und einer Datenprojektion ins Sichtfeld des Brillenträgers. Kam die damalige Google-Brille noch sehr technisch daher und polarisierte, sind die neuesten Modelle eher im Camouflagelook und werden von ihren Produzenten mit einem gewissen Fashion-Anspruch, aber mit inneren technischen Werten vermarktet.

Ziel dieser Produkte ist es, per Augmented Reality mit der Welt um uns herum zu interagieren und trotzdem kein spezielles Headset tragen zu müssen. Smart Glasses im bekannten Brillenlook gehören wohl zur Zukunft. Dabei geht es darum, schnell und einfach auf bestimmte Informationen zuzugreifen, eine andere Sprache zu verstehen oder von einem virtuellen Navigationsprogramm von Punkt A nach Punkt B geleitet zu werden.

Wie diese nicht allzu ferne Zukunft bereits aussehen kann, zeigt der französische Hersteller Cosmo Connected mit der Cosmo Vision. Sie ist eine Biker-Brille. Diese vernetzt sich per Bluetooth mit dem Smartphone. Über die Cosmo Vision-App erfolgt dann der Datentransfer vom Telefon ins rechte Brillenglas, wo sich Geschwindigkeit, Fahrzeiten sowie Navigationshinweise anzeigen lassen. Praktisch ein Head-up-Display, das man schon von smarten Helmen her kennt. Jetzt aber durchaus auch für Rollerfahrer und Jethelmträger geeignet. Gesteuert wird die Anzeige in der Brille per Wischbewegung über den Sensor am linken Glas.

Einen anderen technischen Ansatz haben die Smart Glasses Tooz Essnz Berlin. Ein normaler Formfaktor steht hier ebenfalls im Vordergrund, während die Technik sich eher versteckt. Man könnte auch sagen: Weg vom nerdigen Design, hin zu Mainstream-Geschmack. Auch hier werden die Informationen vom Handy scheinbar auf die Innenseite der in die Fassung eingebauten Gläser projiziert. Tatsächlich wird die Information direkt in die Pupille gebracht. Das Besondere hier ist: Die Brillengläser werden mit einbezogen in das smarte Technologiekonzept, denn in das Glas mit individueller Sehkorrektur wird eine konkrete Struktur eingearbeitet, über die die Informationen in das Auge projiziert werden.

Datenbrille für industrielle Anwendungen 

Andere Arbeitsumgebung, andere Ansprüche. Industrielle Anwendungen oder Einsätze in der Medizin erfordern spe­ziell angepasste Smart Glasses mit individuell angepassten Monitoren, Lautsprechern, Lichtinstallation etc. Hier kommt eine große Anzahl verschiedenster Smart Glasses-Lösungen je nach Anforderung zum Tragen. Also auch herkömmliche VR-Headsets. Innovationen sind auch hier zu finden. Ebenfalls von der CES mit dem Innovationspreis 2023 ausgezeichnet wurde der VR-/MR-Headset-Einsatz von VOY Glasses. Grund: Der VR- oder Mixed Reality-Linseneinsatz zum System ist die weltweit erste abstimmbare Linse für VR- oder MR-Geräte. Dieser Einsatz ermöglicht es kurzsichtigen Benutzern, VR- oder MR-Headset-Bilder klar zu sehen, ohne eine Korrektionsbrille zu tragen. Der abstimmbare Bereich reicht von 0,0 dpt bis -6,0 dpt.

Datenbrillen werden real

Die Zukunft der Datenbrille hat jetzt  begonnen. Von einem Nischenprodukt kann nicht mehr die Rede sein. Neben der Lifestyle-Zielgruppe, die Smart Glasses affin zu sein scheint, verspricht gerade der Medizinbereich ein weiterer und aussichtsreicher Treiber der Marktentwicklung zu werden. 

Das wirft auch Fragen für das Augenoptikhandwerk auf. Steht hier eine weitere Branchentransformation bevor? Wer leistet den Vertrieb und Verkauf der Smart Glasses? Können dies spezialisierte Augenoptiker übernehmen? Wer macht den Kundenservice? Auch wenn die Brillen irgendetwas mit Optik zu tun haben, treten vielleicht andere Vertriebskanäle demnächst als zusätzliche Markplayer und damit Mitbewerber auf? Nicht zu vergessen: Wie steht es um die Herstellung bis zur Recycling-Fähigkeit? Basieren die Fassungen auf einem nachhaltigen Design- und Recyclingkonzept, das Materialien und Technologiekomponenten in einer zirkulären Wertschöpfungskette sauber trennen lässt? Ist dieses so smart wie die Brillen selbst sein sollen? Verglaste Brillen zu sammeln und sie später als Brillensammlung in Entwicklungsländer zu geben, wird höchstwahrscheinlich nicht funktionieren.

Für das Jahr 2023 wurde der Marktstart einiger Produkte ­bereits angekündigt. Weitere werden in den kommenden Jahren folgen. Dann sollen auch große Technologiekonzerne wie Apple oder auch wieder Google mit ihren Produkten auf den Markt kommen. Wie der Markt tatsächlich aussehen wird, muss sich dann noch zeigen. Es wird jedenfalls spannend.

[1] https://www.woche-des-sehens.de/infothek/zahlen-und-fakten/augenkrankheiten-zahlen-fuer-deutschland

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