Presbyopie-Ansichten

Teil I: Definition & Mechanismen
Jeder hat seine eigene Ansicht zur Alterssichtigkeit. Aber bleiben wir bei den Fakten: Was genau ist Presbyopie? Anhand eines evidenzbasierten Ansatzes mit Informationen aus kürzlich veröffentlichten Übersichtsarbeiten werden in diesem Artikel die Besonderheiten der Presbyopie und ihre Korrekturmethoden untersucht.
Der mutmaßliche Erfinder der Bifokalbrille (auch wenn es einige Fragen zur genauen Natur dieser Behauptung gibt) ist Benjamin Franklin – ein Gründervater der USA und einer der Architekten der Unabhängigkeitserklärung von 1776. Franklin war ein eifriger Leser und Gründer der ersten öffentlichen Bibliothek in den USA. Früh schon kurzsichtig wurde er im zunehmenden Alter, wie viele andere auch, presbyopisch. Er verstarb im respektablen Alter von 84 Jahren. Das Herumtragen von zwei Brillen war für ihn ein großes Ärgernis; so schreibt er in Briefen an einen Freund. Franklin bittet einen örtlichen Glasschleifer, die Gläser beider Brillen in zwei Hälften zu schneiden und in eine Fassung einzubauen. In einem Brief mit einer Zeichnung an den erwähnten Freund aus dem Jahr 1785 nennt er dies eine „Doppelbrille“. Neben der vielleicht ersten Beschreibung einer bifokalen Brille war Franklin für eine Reihe interessanter Zitate bekannt, von denen dieses für das Thema Alterssichtigkeit recht passend erscheint: „Die Tragödie des Lebens ist, dass wir zu früh alt und zu spät weise werden.“
CLEAR: 175 Seiten, 100 Experten
Zurück zu den erwähnten Übersichtsarbeiten, die von der British Contact Lens Association (BCLA) erstellt wurden. Im Jahr 2024 konzentrierten sich acht Berichte in der Reihe Contact Lens Evidence-Based Academic Reports (CLEAR) auf die Presbyopie; insgesamt wurden mehr als 175 Seiten in acht „Kapiteln“ in der Fachzeitschrift Contact Lens & Anterior Eye veröffentlicht. Bei der Veröffentlichung handelt es sich um ein Konsenspapier, an dem fast 100 Experten aus der ganzen Welt mitgewirkt haben und an dem zahlreiche Referenzen zur Untermauerung der gewonnenen Informationen angeführt sind. Kontaktlinsen sind natürlich Teil der Reihe, aber die Beiträge beschränken sich nicht darauf. Sie behandeln alles von der Definition über den Mechanismus bis hin zu Interventionsmethoden jenseits von Brillen und Kontaktlinsen, wie z.B. Intraokularlinsen, chirurgische Techniken für die Hornhaut, pharmazeutische Lösungen und sogar die Skleral-Fixationstechnik.
Eine der ersten Erkenntnisse, die man mitnehmen kann, ist: Presbyopie-Korrektur umfasst viel mehr als nur eine „Nahaddition“. Der Begriff „Presbyopie-Management“ ist durchaus angebracht, denn wenn wir unsere presbyopen Kunden ernst nehmen wollen, müssen wir einen ganzheitlicheren Ansatz verfolgen und alle Optionen, die den Kunden heute zur Verfügung stehen, in Betracht ziehen und darüber informieren.
Auch bei der Presbyopie gibt es eine große Aufgabe für die Augenspezialisten, die über alle Arten von Maßnahmen informieren und diese anbieten müssen. Außerdem ist das Potenzial für die Speziallinsenindustrie bei der Presbyopie-Korrektur wahrscheinlich mindestens genauso groß wie bei der Myopie, obwohl letztere in jüngster Zeit viel mehr Aufmerksamkeit erhält.
„Sag es mir und ich vergesse es. Belehre mich und
ich erinnere mich. Beziehe mich ein und ich lerne.“ – Benjamin Franklin
Per Definition
Natürlich ist es sinnvoll, zunächst eine genaue Definition festzulegen, was in dem ersten CLEAR-Papier auch geschieht. Der internationale Konsens lautet wie folgt: „Presbyopie liegt vor, wenn die physiologisch normale altersbedingte Verringerung des Fokussierungsbereichs des Auges einen Punkt erreicht, an dem die Klarheit des Sehens in der Nähe trotz optimaler Korrektur für die Ferne nicht mehr ausreicht, um die Anforderungen des Individuums zu erfüllen.“
Daraus lassen sich einige Dinge ableiten. Alterssichtigkeit ist nicht etwas, das plötzlich im Alter von rund 45 Jahren passiert. Es ist ein lebenslanger Prozess, der sozusagen bei der Geburt beginnt – aber erst im Alter von ca. 45 Jahren bemerkbar wird, weil wir in einer bestimmten Entfernung lesen. Im Wesentlichen hängt es mit der Länge unserer Arme zusammen. Dies ist offensichtlich ein anatomisches Merkmal und erklärt zumindest teilweise die Unterschiede in verschiedenen Regionen und die (geringfügigen, aber dennoch) Unterschiede zwischen Männern und Frauen.
Die regionalen Unterschiede sind recht groß. Die Prävalenz der funktionellen Presbyopie lag 2015 bei 24,9% der Gesamtbevölkerung – das sind 1,8 Milliarden Menschen. Der Prozentsatz der Menschen, die eine Presbyopie-Korrektur erhalten, ist jedoch sehr unterschiedlich, teils aufgrund des Einkommens, teils aufgrund der Anforderungen im Nahbereich. In dem CLEAR-Papier wird zwischen Ländern mit hohem Einkommen und anderen Regionen unterschieden; in den ersteren liegt die unkorrigierte Presbyopie nahe bei 0%, während sie in Teilen der Subsahara-Region bei etwa 90% liegen kann. Es ist also gut, sich vor Augen zu halten, dass Presbyopie in erster Linie eine Bedarfskondition für das Nahsehen ist (mit Betonung auf „Bedarf“).
Viele Risikofaktoren für die Alterssichtigkeit werden in den Abhandlungen eingehend untersucht, einschließlich des Einflusses von UV-Licht, Ernährung (Diät), Stress, Schlaf usw. auf die Akkommodation. Einige von ihnen haben möglicherweise einen Einfluss, aber letztendlich gibt es keine eindeutigen Beweise für einen klaren Beitrag einer einzelnen Variablen. Die wichtigste Variable ist das Alter, zusammen mit den Sehanforderungen wie z.B. der Leseentfernung.
Es wird persönlich
Genau wie das Thema des vergangenen Global Specialty Lens Symposium in Las Vegas (USA), „It‘s Getting Personal“, geht es auch beim Presbyopie-Management darum, persönlich zu werden. Presbyopie und die CLEAR-Papiere standen auch auf dem Programm des GSLS 2025. Die einzige Frage, die wir unseren presbyopen Kunden wirklich stellen sollten, lautet: „Was brauchen Sie?“ Und dementsprechend sollten wir versuchen, die Aufgaben in der Nähe so „realitätsnah“ wie möglich zu beschreiben oder nachzuahmen. Das bedeutet, dass Augenspezialisten mit einer Messbrille arbeiten sollten, damit die Betroffenen ihre Naharbeit in der gewünschten Entfernung halten und reale Leseaufgaben wie Smartphones, E-Reader, Notenblätter – was auch immer sie wollen/brauchen/begehren – ausführen können.
Eine Sache, die Augenoptiker und Kunden dabei verstehen müssen, ist, dass der Wechsel von einer Brille zu Kontaktlinsen in einem frühen Presbyopiealter zu höheren Akkommodations-/Konvergenzanforderungen führen kann – was bedeutet, dass sie eine frühere Nahkorrektur oder einen höheren Nahzusatz benötigen würden. Bei Hypermetropie ist es umgekehrt: Die Nahaddition kann bei dem Wechsel von der Brille zu Kontaktlinsen etwas aufgeschoben oder verringert werden.
Das ältere Auge
Was passiert mit dem Auge, wenn wir älter werden? Einiges, aber nichts mit der Hornhaut. Die Hornhaut bleibt im Laufe des Lebens relativ stabil, was gut ist, da die Hornhaut bei weitem den höchsten optischen Wert des gesamten optischen Systems des Menschen darstellt (die gesamte optische Brechkraft des Auges beträgt 60 dpt, wovon die Hornhaut für etwa 40 dpt verantwortlich ist – für den Rest ist die Augenlinse zuständig. Auch der Astigmatismus ändert sich im Laufe des Lebens ein wenig.
Es ist also die Augenlinse, die sich im Laufe des Lebens stark verändert und fast allein für die Abnahme der Akkommodation verantwortlich ist. Ein weit verbreiteter Mythos in der Öffentlichkeit, aber auch in der Welt der Augenheilkunde, ist, dass die Augenmuskeln der Augenlinse mit dem Alter degenerieren und dass dieser Prozess für die Abnahme der Akkommodation verantwortlich ist. Die CLEAR-Publikation ist diesbezüglich ziemlich eindeutig: Es ist die Linse selbst und liegt nicht an den Muskeln.
Die Linse wird mit zunehmendem Alter immer steifer. Sie besteht größtenteils aus Proteinen; tatsächlich hat die kristalline Linse die höchste Proteinkonzentration im menschlichen Körper (300 mg/ml). Und Proteine verändern sich mit dem Alter. Um die Sache etwas komplexer zu machen, kann man sich die Linse wie eine Zwiebel vorstellen. Verschiedene Teile der Linse weisen unterschiedliche Veränderungen auf. Im Allgemeinen nimmt die Gesamtdicke der Linse ab und die Krümmungen der Außenflächen ändern sich; sowohl die vordere als auch die hintere Fläche werden steiler (aber nicht in gleichem Maße; die vordere Fläche stärker als die hintere, was der Linse eine hyperbolische Form verleiht).
Um diesen Teil abzuschließen: Die Zonulae (die Fäden, die den Linsenmuskel an der Linsenkapsel befestigen) verändern sich ebenfalls: Ihre Innervation an der Linsenkapsel wird mit dem Alter „anteriorer“. Dies führt teilweise zu einer „Verschiebung“ der Linse nach vorne, was ebenfalls zur Veränderung der optischen Stärke beiträgt, wie z.B. zur Veränderung der Akkommodation.
Ursache nicht eindeutig geklärt
Interessanterweise verstehen wir trotz all unserer jüngsten Forschungen und Innovationen die Akkommodation nicht vollständig. Alle hier beschriebenen Veränderungen führen zu einer Verringerung der Akkommodation, aber nach Ansicht der Wissenschaftler können sie die Gesamtveränderung der Akkommodation nicht zu 100% vorhersagen. Dies wird als „Presbyopie-Paradoxon“ bezeichnet. Weitere Veränderungen können in jener des Brechungsindexes der Proteine in der Augenlinse zu finden sein, doch diese Erkenntnis hat sich noch nicht vollständig herauskristallisiert.
Interventionsmethoden
Welche Interventionsmethoden gibt es bei Presbyopie, die der Terminologie zur Behandlung von Myopie entsprechen? Neben Brillen und Kontaktlinsen gibt es Hornhaut-Inlay-Techniken, die Implantation von Intraokularlinsen mit verschiedenen Linsendesigns, refraktive Laserchirurgie, pharmazeutische Lösungen und mehr.
Teil 2 dieser Serie wird sich in der nächsten Ausgabe von FOCUS mit all diesen Themen befassen. Die technischen Aspekte werden ebenso behandelt wie die Überlegungen, die bei der Wahl einer Option gegenüber einer anderen zu berücksichtigen sind. Letztere können ebenso wichtig sein wie die ersten, da die Entscheidung für eine Technik oft eine persönliche ist. Alterssichtigkeit ist real und kann evidenzbasiert erklärt werden (und nein, Übungen helfen nicht und das Aufschieben der Anschaffung einer Brille auch nicht).
Die Wahl der Behandlung der Presbyopie ist sehr persönlich und die Kundenmeinung mitentscheidend. Letztlich sollte sie auf einer gut informierten Präsentation aller Optionen durch den Augenoptiker/Optometristen beruhen.