Glosse: Mit Achtsamkeit ins neue Jahr
Lars Wandke blickt nach beinahe 20 Jahren in der Augenoptik nun von außen auf die Branche. Und zwar jeden Monat an dieser Stelle im FOCUS.
Achtsamkeit hat ja jeder schon mal gehört. Das ist, wenn man sich abends nicht mit Social Media stresst, sondern alle Geräte ausmacht, sich hinsetzt und noch mal so richtig über acht Sachen aufregt, die am Tag passiert sind. So doll, dass man bestimmte Leute am liebsten anrufen und beschimpfen möchte. Weil es aber schon nach zehn ist, lässt man es und greift wieder zu Social Media, um sich ersatzweise daran zu erfreuen, wie andere sich beschimpfen.
Wichtig ist, dass es mindestens acht Sachen sind, über die man sich echauffiert, es heißt ja nicht Siebensamkeit. Man kann diese Übung, die gut für die Seelenruhe ist, nicht nur in Bezug auf den Tag anwenden, sondern auch auf ein Jahr. Ein Best-of, sozusagen. Das machen wir jetzt.
Aufregen möchte ich mich zuallererst mal darüber, dass 2022 kollektiv die Corona-Krise für beendet erklärt wurde, ohne die Augenoptik zu fragen. Wir haben bis dahin so schöne Umsätze gemacht und dank Kurzarbeitergeld sogar noch schönere Umsatzrenditen. All das Geld, das die Kunden normalerweise für Urlaub und Ausgehen verprassen, blieb daheim und musste sich andere Wege suchen ausgegeben zu werden. Endlich ging’s uns mal gut in der Augenoptik, endlich war die Welt mal fair. Rundum war alles dicht, nur wir durften morgens den Straßenstopper vor die Tür stellen, um die Menschen für unsere systemrelevanten Angebote zu begeistern. War schon ‘ne gute Zeit, man wird fast zum Impfgegner bei der Erinnerung …
Aufregen möchte ich mich nichtsdestotrotz über das Arschloch, das mich im Mai mit Corona angesteckt hat. Vermutlich im Zug auf dem Weg zur Opti.
Womit wir beim dritten Aufreger sind: Was fällt den Industrieausstellern ein, in Scharen ihre Teilnahme an der augenoptischen Leitmesse im Januar abzusagen? Ich wollte eigentlich hin, aber nun brauche ich ja länger nach München als durch alle drei Hallen. Und was macht man mit dem angebrochenen Tag? Im Januar. In der bayerischen Landeshauptstadt. Zum x-ten Male. Wenn es ohnehin nur so wenige Aussteller sind, die teilnehmen, wäre dann nicht ein Wanderzirkus das geeignetere Format? Als Besucher könnte man die Kinder mitnehmen und sie draußen vorm Zelt die Außendienstler streicheln lassen. Die haben‘s ja auch nicht leicht dieser Tage; dank Krieg und Kostendruck sind Augenoptiker aktuell sicher nicht zu Abschlüssen aufgelegt.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich auch erneut über Hans Peter Wollseifer aufregen, der regelmäßig über die Stränge schlägt und die dokumentierte Meinung vertritt, wirklich zu allem etwas zu sagen zu haben. Ihr macht schon so schöne dystopische und auf bemerkenswert vielen Ebenen verstörende Kampagnen beim Zentralverband des Deutschen Handwerks, belasst es doch dabei. Warum schreibt ihr eurem (scheidenden) Präsidenten zusätzlich Pressemitteilungen, die notorisch die Grenze zur Selbstüberschätzung penetrieren. Zum Beispiel am 25. Februar unter der Überschrift „Russland muss Kriegshandlungen sofort beenden – ZDH-Präsident Hans Peter Wollseifer äußert sich zum Angriff Russlands auf die Ukraine“. War das Statement nicht ins Kyrillische übersetzt oder woran lag’s, dass niemand hörte?
Das führt uns unweigerlich zum fünften großen Aufreger, zu dem ich aber nichts sagen werde, denn ich bin ja nicht oberster Handwerker im Lande und gebe meinen Senf zu Themen, zu denen es bereits hinreichend viele Kommentare und Analysen von Leuten gibt, die dazu befähigter sind.
Aufreger sechs: Etuis. Ich hab das Gefühl, es wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Karl Lagerfeld wird das Zitat zugeschrieben „Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren“. Ich sage, wer seinen Kunden billigste Klappetuis mitgibt, hat die Kontrolle über seinen Laden verloren. Neulich saß ich in der Straßenbahn und schrak plötzlich auf in der Annahme, jemand hätte einen Schuss auf mich abgefeuert. Dabei hatte die junge Frau neben mir nur ihr Hartschalenetui zugeklappt. Altkleidercontainer fallen sanfter zu als die Container, die in unserer Branche völlig schamlos Menschen mitgegeben werden, die soeben ihr halbes Nettomonatsgehalt für eine neue Brille hingelegt haben. Vielleicht versuchen wir im neuen Jahr, die Kunden durch solche Dreingaben etwas weniger offen zu verachten. Nur so eine Idee.
Dann hat mich an siebter Stelle der Oktober fürchterlich aufgeregt. Nennen Sie mich altmodisch, aber ich schwitze nicht gerne das halbe Jahr. Der Oktober war in NRW der wärmste seit 1881. Ob das ein Beleg für oder gegen die Klimaerwärmung bzw. deren dramatisches Ausmaß ist, vermag ich nicht abschließend einzuschätzen. Sicher klebt gerade irgendwo in Ihrer Nähe ein Experte am Asphalt, der mehr davon versteht als ich. Fragen Sie ihn/sie/es.
Letzter Aufreger: LinkedIn. Ich habe nur in der App rumgespielt und testweise im Profil mein Pronomen ausgewählt: he/him. Seitdem steht es da und lässt sich nicht löschen, nur ändern. Ich erwäge, mich aus Protest an mein Sofa zu kleben. Mir ist das alles zu viel.
2023 muss besser werden.