Morrow: Addition mit einem Knopfdruck

Zu Besuch in Belgien
Bei einem belgischen Start-up gibt es ein Produkt, von dem viele Menschen lange geträumt haben: eine Fernbrille mit Addition per Knopfdruck. In manchen Regionen ist die 3D-gedruckte smarte Brille bereits im Handel erhältlich. FOCUS war in Belgien, hat sich die Produktion vor Ort angesehen und die Brille getestet.
Wir befinden uns in einem Industriegebiet nahe des belgischen Ortes Gent auf der Suche nach dem Start-up Morrow. In einem großen verklinkerten Gebäude sollen sich die Büroräume und die Produktion des jungen Unternehmens verbergen.
Dass wir hier richtig sind, zeigt lediglich ein dezentes Namensschild am Gebäudeeingang. Mit dem Aufzug geht es schließlich in die vierte Etage, wo wir im Laufe des Tages CEO Frederiek Ysebaert und sein Team treffen.
Addition mit einem Klick
Die Brille, die wir hier heute zu sehen bekommen, ist etwas sehr Besonderes. Denn sie soll den Traum vieler Menschen wahr machen: die Addition per Knopfdruck.
Die Brille ist für Presbyope geeignet. Gleichzeitig soll sie aber ohne die typischen Limitationen von Gleitsichtgläsern auskommen. Es geht beispielsweise darum, störende Abbildungsfehler gänzlich zu eliminieren. Stattdessen sollen Anwender von einem großen weiten Fernbereich profitieren und von einem kleineren Nahbereich, dessen Addition nur bei Bedarf „zugeschaltet“ wird. Wobei das aktuelle Modell quasi ein Hybrid aus smarter Brille und Progressivglas ist – doch dazu später mehr.
„Nach jahrelanger Forschung haben wir meiner Meinung nach eine der innovativsten Technologien für presbyope Menschen auf den Markt gebracht“, beschreibt uns Davide Airey, Chief Sales Director, stolz die Brille. „Gleitsichtgläser sind eine der wichtigsten Innovationen auf dem Brillenmarkt. Aber gleichzeitig sind sie ein Kompromiss zwischen Fern- und Nahbereich.“
Smart und 3D-gedruckt
Vor uns liegt nun ein Modellkasten mit verschiedenen Varianten der smarten Brille, die auch Augenoptiker bekommen, um sie Kunden zu zeigen. Die Fassung ist aktuell noch 3D-gedruckt, in Zukunft soll es sie in weiteren Materialien geben,
Das aktuelle Modell gibt es in verschiedenen Farben und Formen. Optisch ähnelt sie anderen 3D-gedruckten Fassungen, wobei der Bügel natürlich etwas breiter sein muss, schließlich ist hier Technik untergebracht und der Taster. Rund 40 Gramm wiegt die Brille und circa zwei Tage soll die Batterie halten, bevor sie wieder geladen werden muss.
Der Fernbereich des Brillenglases sieht aus wie bei jedem anderen Brillenglas auch. Den potenziellen Lesebereich kann man jedoch im Brillenglas erkennen, er ist ähnlich groß wie jener eines Bifokalglases. Denn an der Stelle, an der die Addition per Klick erzeugt wird, sieht man eine Folie durchscheinen, deren feine Ringe und Punkte erkennbar sind. Im Gesicht des Brillenträgers bemerkt man das Feld auf den ersten Blick jedoch nicht.
Das Liquid Crystal Lens Sandwich
Nun möchten wir die Brille probieren. Ein Kunde, der sich die Brille anfertigen lässt, bekommt diese selbstverständlich in den passenden Stärken. Für uns ist der Test ein kleiner Kompromiss, da die Ferne nicht korrigiert ist. Dennoch wird deutlich: die Addition lässt sich tatsächlich mit einem Knopfdruck erzeugen und erleichtert das Lesen. Die Brille funktioniert – doch wie genau geht das?
Der Chief Sales Director erklärt, dass die Brille quasi wie ein Sandwich aufgebaut ist. In der Mitte des „Sandwiches“ sind Liquid Crystal Lenses, die bei Spannung ihre Orientierung ändern, sodass das Licht stärker oder schwächer gebrochen wird. Sowohl vor als auch hinter der Folie mit Liquid Crystal Lenses sitzt jedoch ein normales Brillenglas.
Aktive und passive Addition
Aktuell gibt es jedoch noch Grenzen. So ist die elektronisch erzeugte Addition beispielsweise noch auf 1,0 dpt beschränkt. Dennoch tragen die Brille bereits viele Menschen, die eine höhere Addition benötigen. Um dies möglich zu machen, arbeitet das Unternehmen mit einem Trick, den sie passive Addition nennen.
Hierzu wird für einen Teil des Sandwich-Glases ein Progressivglas mit leichter Addition verwendet. Durch die zusätzliche Addition der liquid crystal Folie summiert sich der Wert. Die Abbildungsfehler bleiben hingegen gering, so wie bei niedrigen Additionen in Progressivgläsern üblich.
In Zukunft soll es möglich werden, auch die aktive Addition weiter zu erhöhen. Außerdem gibt es Pläne, die Größe des Additionsbereichs zu vergrößern. Im Moment gleicht die Größe des Spezialbereichs jener von Bifokalgläsern. Sollte das Start-up es schaffen, dieses Feld deutlich zu vergrößern, so wäre die Brille auch äußerst spannend für Tätigkeiten am Bildschirm und vieles mehr.
Nachdem die grundlegenden Fragen geklärt sind, zeigt uns Anshul Sharma, Head of Operations, die Produktion.
Unter gelbem Licht
Viele wichtige Schritte in der Produktion finden unter strengsten hygienischen Bedingungen in einem Reinraum (ISO 6) statt. Das bedeutet, dass wir uns umziehen müssen, bevor wir den kritischen Bereich betreten. Ein Kittel muss getragen werden, Schuhüberzieher, eine Haube für die Haare und natürlich ein Mundschutz – absolute Sauberkeit ist hier Pflicht.
Wir betreten einen gelb beleuchteten Raum, der noch einmal durch einen Lamellenvorhang geschützt ist. Hochkonzentriert arbeiten die Mitarbeiter an den ersten Schritten. „Wir haben hier offene Schichten. Deshalb muss es 100% sauber sein. Sie sehen auch, dass wir hier lichtempfindliche Materialien haben, wie Klebstoffe, die UV-empfindlich sind. Deshalb wird alles unter gelbem Licht gemacht“, erklärt Sharma.
Hier werden zwei Kunststoffsubstrate mit einem UV-empfindlichen Klebstoff zusammengeklebt, der über einen industriellen Tintenstrahldrucker aufgetragen wird. Dann werden die vorgestanzten Substrate mit einer speziellen Maschine unter Vakuum mit Flüssigkristallen gefüllt. Von außen sehen die Flüssigkristalle wie jede andere transparente Flüssigkeit aus.
In dem kleinen Produktionsbereich befinden sich sehr unterschiedliche Maschinen, die zu einer halbautomatischen Pilotproduktionslinie zusammengefügt sind. Einige Herstellermarken sind in der optischen Industrie bekannt, andere überhaupt nicht.
Die Betriebsleiterin Anshul Sharma erklärt, warum dies der Fall ist: „Die auf dem Markt vorhandenen Geräte sind für bestimmte Anwendungen da. Aber wir müssen sie anpassen, damit sie für unsere Prozesse funktionieren. Das ist eine unserer größten Herausforderungen, wenn man von der Produktion von 20 Stück pro Monat auf ≥ 400 Stück pro Monat kommt. Das ist ein wichtiges Ziel, den Durchsatz weiter zu erhöhen.“ Nach der Qualitätskontrolle der gefüllten Folien geht es weiter zum nächsten Schritt.
Montage-Bereich
Im nächsten Raum sehen wir, wie die Folie mit einer Vorderfläche und Rückfläche in Form eines Brillenglases mithilfe eines speziellen Klebers zusammengefügt wird. Der Prozess heißt „stacking“.
Allerdings sehen wir hier noch kein finales Brillenglas mit Sehstärke, sondern Brillenglasrohlinge. Diese speziellen Blanks mit bearbeiteter Frontfläche erhält Morrow vom Partner Tokai.
Sobald Vorderseite, liquid crystal Folie und die Rückseite mit einem Spezialverfahren fest verklebt sind, geht der sogenannte e-blank wieder zurück zum Hersteller Tokai. Erst jetzt wird die progressive Fläche ins Brillenglas gefräst. Aus diesem Grund sieht man an den e-Blanks bei Morrow auch noch das Blockstück.
Fertig ist das spezielle Sandwich-Brillenglas jedoch noch nicht und auch die Produktion in Belgien ist noch nicht beendet. Es fehlt noch die Beschichtung und natürlich muss das Glas noch gerandet werden. Diese Schritte werden wieder bei Morrow in Belgien ausgeführt, sobald der e-Blank mit passender Stärke von Tokai zurückkommt.
Da das spezielle Glas sich nicht mit herkömmlichen Vakuum-Coatern beschichten lässt, nutzt das Start-up die Film-Lamination-Technology vom Hersteller Satisloh. Bei dieser Technik wird die Antireflexbeschichtung und die Hartschicht in Form einer speziellen Folie auf das Brillenglas laminiert. Im letzten Schritt der Brillenglasfertigung wird das Brillenglas mithilfe eines MEI-edgers gerandet.
Glas und Fassung vereint
Im letzten Schritt muss die 3D-gedruckte Fassung mit dem Spezial-Brillenglas vereint werden. Das ist nicht trivial, da sowohl im Bügel der Fassung als auch in der Nut Elektronik verbaut ist. Daher nutzen die Belgier eine patentierte Technologie, bei der mithilfe einer leitfähigen Schicht und einer Spezialbeschichtung die beiden Komponenten verbunden werden.
Die smarte Brille ist jetzt fertig. Doch wie kommt das fertige Produkt zu den Kunden?
Die speziellen Brillen werden ausschließlich von Augenoptikern vertrieben und sind bisher nur in den beiden Ländern Belgien und Frankreich verfügbar. Doch das Unternehmen will mehr. Es werden neue Märkte genaustens unter die Lupe genommen und Strategien entwickelt. In fünf Jahren soll die Brille auf mindestens drei Kontinenten verfügbar sein: in Amerika, Asien und Europa.
Bisher hat das Start-up hunderte Kunden. Tausende seien es noch nicht, erklärt CEO Frederiek Ysebaert. Schritt für Schritt soll es jedoch weiter gehen und das Produkt soll noch besser werden.
Ambitionierte Ziele für die kommenden Jahre
Die Fassungsmaterialien würde Ysebaert gerne ausbauen, um die Modelle noch modischer und schicker gestalten zu können. Außerdem soll die aktive elektronisch erzeugte Addition in Zukunft mehr als 1,0 dpt erzeugen. Und nicht zuletzt wird an Möglichkeiten gearbeitet, den aktiven Part auf das gesamte Brillenglas zu erweitern.
Allerdings geht es hier auch um das Thema Verkaufsstrategie. Aktuell liegt der Verkaufspreis bereits bei circa 1.200 €. Da die Liquid Crystals teuer sind, muss hier durchaus abgewägt werden, ob sich die Erweiterung des aktiven Parts auch rechnerisch lohnt.
Außerdem wird an einem Weg gearbeitet, der auf lange Sicht ermöglicht, die Fassung separat vom Brillenglas zu halten. Das würde dann bedeuten, dass jede Fassung dank des speziellen elektronischen Brillenglases zu einer smarten Brille mit zuschaltbarer Addition werden könnte.
Das Potenzial dürfte immerhin groß sein, denn auch wenn die Brille nicht für absolut jeden Presbyopen interessant ist, so gibt es doch Interessenten, die die Brille vermutlich besonders spannend finden. „Die offensichtlichen Zielgruppen sind Menschen, die bereits Probleme mit Gleitsichtgläsern haben – die Non-adapter – und junge Presbyope, die den Tag, an dem sie zum Gleitsichtträger werden, hinausschieben wollen. Aber auch alle Menschen mit einem aktiven Lebensstil werden mehr als andere von der Technologie profitieren“, resümiert der CEO.
Mit ambitionierten Zielen vor Augen schaut das Unternehmen in die Zukunft und wir sind gespannt, wann wir die ersten Brillen mit Addition per Knopfdruck auch hier beim Augenoptiker um die Ecke kaufen können.