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Museo dell’Occhiale

Bilder: Silke Sage

Das Brillenmuseum im Cadore-Tal

Wer die Gegend nördlich von Venedig oder südlich der beliebten Skigebiete Südtirols bereist und sich für die Augenoptik in all ihren Facetten interessiert, für den lohnt sich ein Ausflug ins Cadore-Tal mitsamt Besuch des Brillenmuseums. Denn: Der Reisende blickt nicht nur auf die grandiose Landschaft der Alpen mit seinen Dolomitengipfel und türkis schimmernden Seen – er blickt auch in das Herz der italienischen Brillenindustrie. In Pieve di Cadore bewahrt man im Museo dell’Occhiale dieses industrielle und kulturelle Gedächtnis eindrucksvoll auf. 

Das Cadore-Tal liegt idyllisch in den Dolomiten, ist UNESCO-Weltnaturerbe und Inbegriff alpiner Dramatik.­ Tiefe Täler wechseln mit klaren Bergseen und schroffen Felszacken, die im Abendlicht rosa glühen. Pieve di Cadore ist eingebettet in Wälder, Wiesen – und die Gletscherberge der Marmarole und Antelao sind nicht weit. Der türkisfarbene Lago di Centro Cadore glitzert zwischen den Ortschaften Calalzo, Domegge und Lozzo, während alte Dörfer mit Holzbalkonen und Dächern, die große Schnee­lasten aushalten müssen, die Landschaft prägen.

Der futuristische Bau des Brillenmuseums in Pieve di Cadore sticht daher äußerst markant aus der idyllischen Alpenlandschaft mit seiner modernen Architektur heraus. Dabei spiegeln sich in seinen Glasflächen die hohen Zinnen der Dolomiten. Dass scheinbar nicht viele Interessierte den Weg hier herfinden, offenbart sich bei der Ankunft: Der Parkplatz ist fast leer, ein Kartenlesegerät gibt es nicht, Wechselgeld war (morgens) noch keines da. Dafür aber eine umso engagiertere Dame, die an unserem Besuchstag als einziges Personal das Museum betreute und mit Rat und Tat zur Seite stand. Die Informationen zur Ausstellung können zudem mithilfe von Audiogeräten hervorragend verfolgt werden. Die Raumkonzeption, Beleuchtung und Ausstellung sind modern und sehr einladend. Es gibt einige interaktive Displays, die sicher auch für Berufsanfänger wertvoll sind. Insgesamt beherbergt die Sammlung über 6.000 Exponate. Hinzu kommen auch Sonderausstellungen (dazu später mehr).

Ein nationales Brillenmuseum

Die Idee zu einem nationalen Brillenmuseum geht auf den Cadoriner Arzt und Forscher Enrico De Lotto zurück: Nach zwei Ausstellungen, die erste 1956 im Fahrwasser der Olympischen Winterspiele von Cortina, und einer weiteren im Jahr 1959, reifte der Plan, Exponate rund um die Geschichte der Brille systematisch zu sammeln und dauerhaft zu zeigen. Die eigentliche Eröffnung des Museums erfolgte jedoch erst 1990. In seinen heutigen Räumlichkeiten unweit des Geburtshauses Tizians ist es seit 2007 untergebracht. Initiator und langjähriger Förderer der Realisierung war der damalige Safilo-Präsident Vittorio Tabacchi.

Entstehung der Brille

Grundsätzlich ist die Ausstellung inhaltlich in zwei Rundgänge gegliedert. Der erste zeigt die Entstehung und Evolution der Brille: Von frühen, noch bügellosen Sehhilfen über Fassungen des 17. Jahrhunderts. Auch die ersten Sonnenbrillen des 18. Jahrhunderts, „Pince-Nez“, die sogenannten Kneifer, sowie Theater-Lorgnetten des 19. Jahrhunderts werden gezeigt. Dazu kommen kostbare Accessoires – von Elfenbein-Fächern mit versteckten optischen Linsen bis hin zu edlen Etuis – sowie ein Exkurs zu chinesischen und japanischen Exponaten. 

Brillengeschichte im Cadore-Tal und Bellunese

Der zweite Rundgang erzählt die Brillengeschichte der Umgebung anhand von Fotos, Werkzeugen und Dokumenten: Die industrielle Brillengeschichte des Tales beginnt 1878 in Calalzo – hier war die Manufaktur von Angelo Frescura und Giovanni Lozza. Aus dieser Werkstatt wuchs schließlich Lozza, heute die älteste italienische Brillenmarke und mittlerweile Teil der De Rigo-Gruppe. Safilo entstand deutlich später, im Jahr 1934 in Pieve di Cadore, als Guglielmo Tabacchi den historischen Standort übernahm und zu einem Unternehmen formte, das später seinen Hauptsitz nach Padua verlegte. 

Damit sind bereits zwei Namen genannt, die bis heute die DNA des Tales prägen. Ein dritter, für das Cadore zentraler Player, ist Marcolin: 1961 gegründet, zog das Unternehmen zunächst nach Vallesella di Cadore und etablierte sich schließlich in Longarone, wo auch heute der Hauptsitz liegt. Parallel wuchs De Rigo, das seine Gründung 1978 in der Provinz ­Belluno hatte, zum familiengeführten internationalen Anbieter mit Firmenzentrale ebenfalls in Longarone. 

Relativ neu, aber mit großer Schlagkraft, ist in der Region Thélios (LVMH): 2018 eröffnete das Unternehmen in Longarone seine Manufaktur, 2023 übernahm es das dortige Safilo-Werk und integrierte die Belegschaft. 2025 folgte ein zweites Werk für Metallfassungen – zusammen entstand so ein 40.000 m² großer Fertigungscampus. Das unterstreicht die Anziehungskraft dieser Region auch für Luxuskonzerne. 

Neben den Großkonzernen finden sich im Cadore zahlreiche weitere Anbieter. Eine dichte Schicht an mittelständischen und kleinen Herstellern, alle angesiedelt in der Augenoptik: Thema Optical fertigt in Domegge di Cadore, Immagine 98 arbeitet in Calalzo di Cadore, IOVES produziert in Lozzo di Cadore, Kador sitzt in Calalzo, LOOK Occhiali in Longarone, um einige Beispiele zu nennen. Diese Firmen stehen stellvertretend für eine arbeitsteilige, hochspezialisierte Fertigung – vom Design bis zur Produktion. Auch Komponenten- und Halbfabrikate sowie Brillenetuis werden hier gefertigt. Damit sichert dieser Industriezweig die Eigenständigkeit der Region.

Ein Tal, eine Wertschöpfungskette

Zahlen der Handelskammer Treviso-Belluno belegen die Bedeutung: Im Belluneser Brillendistrikt, zu dem neben anderen auch Cadore und Longarone zählen, arbeiten demnach über 14.000 Beschäftigte in den Kernbereichen an 335 Standorten bzw. 116 lokalen Betrieben. Wesentlich für diese Dichte ist die Institutionenlandschaft vor Ort: In Longarone sitzt ­Certottica, das italienische Institut für die Zertifizierung optischer Produkte und ein wichtiger Ausbildungspartner der Unternehmen. Daran angedockt sind neue Studiengänge (z.B. „Eyewear Product Manager“) mit Standort Longarone – ein Talent-Pool, der Fachkräfte im unmittelbaren Umfeld der Fabriken qualifiziert. Dieses Zusammenspiel von Museum, Forschung, Zertifizierung und Ausbildung stabilisiert den Standort – und gilt als ein Lehrstück für ein funktionierendes Zusammenspiel eines Industriezweigs auf engem Raum. 

„The Lens of Time“: Ausstellung in Venedig

Wer den Weg ins Cadore findet, entdeckt ein Kulturerbe jenseits der großen Touristenströme. Doch gerade weil Pieve di Cadore nicht auf den Hauptachsen des Massentourismus liegt, hat die italienische Verband ANFAO mit der Ausstellung „The Lens of Time“ einen Teil dieser Geschichte nach Venedig gebracht – mitten ins Herz einer Stadt, die jährlich Millionen von Besuchern empfängt.

Vom 7. Mai bis 30. Juli verwandelte sich der frisch renovierte Palazzo Flangini am Canal Grande in eine Bühne der Brillengeschichte. Über 150 Originalexponate aus dem Brillenmuseum in Pieve, der Sammlung Vascellari und der Kollektion Arte del Vedere zeigten auf zwölf Stationen den Weg von den ersten Lesesteinen des 13. Jahrhunderts bis zu Hightech-Designs der Gegenwart. So wurde das, was im Cadore entstanden ist, für ein internationales Publikum sichtbar – eingebettet in das Programm des National Made in Italy Day und flankiert von der Architekturbiennale.

Die Ausstellung wurde außerdem durch zwei virtuelle Installationen ergänzt: eine Reise durch das Brillenmuseum von Pieve di Cadore, die über ein Display oder QR-Code zugänglich war und den Besuchern die Möglichkeit bot, die einzigartige Sammlung historischer Stücke zu erkunden. Mit „Timeless Frames“, wurde ein interaktives Tool angeboten mit dem man die kultigsten Brillen virtuell „anprobieren” und Vintage-Selfies aufnehmen und teilen konnte. So wurden Vergangenheit und Gegenwart eindrucksvoll verbunden.

Außerdem wurden zwei Kunstwerke des italienischen Malers Maurizio Paccagnella vorgestellt, die eine Brücke zur Glas- und Designtradition Venedigs schlugen.

Mit „The Lens of Time“ entstand beides: In Pieve blieb das Museum ein authentischer Ort, der eng mit der Industriegeschichte verwurzelt ist. In Venedig dagegen öffnete die Ausstellung die Türen für das breite, internationale Publikum. Zusammen war das ein starkes Signal: Brillen sind nicht nur Sehhilfen, sondern kulturelle Identitätsträger und in diesem Fall ganz klar auch Botschafter von Made in Italy.

Fassen wir nun zusammen: Das Brillenmuseum von Pieve di Cadore liegt zwar für Reisende eher etwas abseits der üblichen Routen, doch es ist absolut kein stilles Archiv (auch wenn wenig los ist), sondern ein Beleg einer lebendigen ­regionalen Industrie. Es erklärt, warum aus einem alpinen Tal eine Weltindustrie erwuchs, welche Marken und Werkstätten sie prägten – und wie diese Tradition heute, zwischen Global Playern und Manufakturhandwerk, weiterlebt. Wer Brillen macht oder verkauft – oder ganz einfach liebt –, findet hier Inspiration, Wissen und einen klaren Blick auf das Handwerk rund um die Brillenherstellung, die im Cadore eine ihrer ­Wurzeln hat. Eine Reise ist es auf jeden Fall wert!

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