Optimale Sehversorgung von Kindern
Ein Interview mit Prof. Werner Eisenbarth
Unentdeckte Fehlsichtigkeiten bei Kindern können kurzfristig die Entwicklung stören und langfristig schwere Schäden verursachen. Doch bei der Behandlung einfach Kinderaugen als die von „kleinen Erwachsenen“ zu betrachten, losgelöst von der Entwicklung des Gehirns in jungen Jahren, ist ein Trugschluss.
Der FOCUS unterhielt sich darüber mit einem Experten für Kinderoptometrie, der als Professor für Physiologie des Sehens und Trainer der Rodenstock Akademie genau um die anatomischen Besonderheiten weiß, die bei Kindern zu beachten sind.
Von Daniel Groß
FOCUS: Herr Eisenbarth, wie kam es dazu, dass Sie sich intensiv mit der Kinderoptometrie beschäftigt haben?
Eisenbarth: Inzwischen ist es gut zehn Jahre her, dass ich von der Rodenstock Akademie angefragt wurde, welche Themen ich beisteuern könnte. Und da war das Seminar zu Kinderoptometrie in der Tat auch das erste Seminar überhaupt, das ich für Rodenstock konzipiert habe.
Das Thema ist mir wichtig, weil es sehr schön zu den Grundlagen des visuellen Systems, zur Physiologie des Sehens, hinführt. Auch im Seminar befassen wir uns im ersten Drittel mit der Anatomie und Physiologie bei der Entwicklung des visuellen Systems. Nur wer verstanden hat, wie sich das Sehen entwickelt, kann eigentlich auch weitere Handlungsweisen davon ableiten. Und das ist für mich schon immer eine faszinierende Thematik gewesen. Ich habe die Professur zur Physiologie des Sehens (an der Hochschule München, Anm. der Redaktion) und dann ist es selbstverständlich, dass man sich hier auch mit den Entwicklungen und Entwicklungsstadien auseinandersetzt.
Und eines ist ganz wichtig: Wir sprechen hier nicht nur von der anatomischen Entwicklung des Augapfels, sondern auch des Gehirns. Denn beides entwickelt sich parallel. Das Neugeborene kommt zur Welt, wächst und wird größer und entsprechend passen sich Anatomie und dann auch die Hirnfunktionen diesen Gegebenheiten an. Unter Umständen kommt es dann auch zu Störungen.
FOCUS: Fälle, in denen geholfen werden kann, wenn sie frühzeitig entdeckt werden.
Eisenbarth: Genau. Zunächst muss man die Auffälligkeiten entdecken und wissen, wann es überhaupt Sinn macht, Untersuchungen durchzuführen. Und wann es auch konkret für die Augenoptik Sinn macht. Im Kreißsaal und in den U-Untersuchungen U1 und U2 ist es die Aufgabe des Kinderarztes, der das Neugeborene betreut. Da sind Augenoptiker noch nicht so gefragt, aber vielleicht schon wenige Wochen später, wenn Kinder mit einer angeborenen Katarakt zur Welt kommen. Dann sind es oftmals Optometristen, die schon die erste Kontaktlinse mit 4 bis 6 Wochen anpassen.
„Jedes Kind ist gleich wichtig und ich muss mich heute um das myope Kind kümmern.“
FOCUS: Was verstehen Sie unter einem kindgerechten Weg zur Refraktion?
Eisenbarth: Hier müssen wir zunächst ein bisschen das Alter definieren. Und wenn wir jetzt über Refraktion und Augenoptik/Optometrie sprechen und ich die herkömmliche Klientel betrachte, nicht diese Spezialfälle vielleicht mit der frühzeitigen Kontaktlinse, dann kommt der Großteil der Augenoptiker/Optometristen normalerweise erst mit drei/vier Jahren ins Spiel. In dem Alter ist noch gar nicht so sehr die Refraktion in dem Sinne gemeint, wie wir oftmals die Refraktion verstehen, sondern es geht eher darum zu beurteilen, ob wir es mit einer kindgerechten Fehlsichtigkeit zu tun haben. Das klingt im ersten Moment vielleicht ein bisschen seltsam, aber es ist nun mal physiologisch normal, dass Kinder in diesem Alter noch leicht moderat hyperop sind und einen nicht zu starken Astigmatismus haben. Und da muss natürlich auch mit dem Skiaskop beispielsweise abgeklärt werden, ob man innerhalb eines bestimmten Rahmens der Fehlsichtigkeit liegt. Wir sprechen noch nicht von der Augenglasbestimmung im herkömmlichen Sinn, was sich dann aber altersabhängig mit Eintritt in die Schule, ersten Untersuchungen und vielleicht auch einer genaueren Refraktion einstellt.
FOCUS: Wie sehen Sie die medizinische Versorgung in Deutschland von Kindern mit binokularen Problemen generell aufgestellt?
Eisenbarth: Bei binokularen Problemen müssen wir unterscheiden zwischen einem manifesten Strabismus. Da glaube ich schon, dass die Versorgung gut ist, das ist auch eine augenärztliche Angelegenheit, die vielleicht sogar eine Operation nach sich zieht. Alles andere, was bei uns unter Heterophorien/Winkelfehlsichtigkeiten läuft, dazu will ich mir kein Urteil erlauben, weil ich keine Zahlen in der Form parat habe. Aber es geht auch darum, wie es aktuell beim Myopie-Management in Deutschland geschieht, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Und nach meiner Wahrnehmung ist da schon sehr viel in den letzten 20 Jahren geschehen. Das erfahre ich zum Beispiel auch über meine Frau, die in der Schule tätig ist, wenn Lehrerinnen auf Elternabenden das Thema Winkelfehlsichtigkeit behandeln, ohne dass sie das jetzt genau einordnen. Aber ihnen ist bewusst, dass das Sehen bei Kindern auch noch andere Facetten haben kann als das, was herkömmlicherweise beim Ophthalmologen abgeprüft wird. Da war ich zum Teil überrascht, wie weit das in der öffentlichen Wahrnehmung schon durchgedrungen ist.
FOCUS: Sie haben das Myopie-Management erwähnt. Rückt das Thema auch bei Kollegen mehr in den Fokus?
Eisenbarth: Das Myopie-Management wird erfreulicherweise sowohl von den Augenoptikern/Optometristen als auch von den Augenärzten behandelt. Ich sehe das aber keinesfalls als ein plötzlich neues Geschäftsfeld und halte es auch nicht für so relevant, vielleicht widerspreche ich da dem einen oder anderen Kollegen, ob wir jetzt epidemiologisch ein paar Prozent mehr oder weniger an Zuwachs haben. Das ist für mich nicht das Entscheidende. Für mich ist in der Kinderoptometrie jedes Mal der absolute Einzelfall entscheidend. Und ob es da noch drei in der Klasse gibt oder fünf, spielt keine Rolle. Jedes Kind ist gleich wichtig und ich muss mich heute um das myope Kind kümmern. Und wenn ich hierfür neue Versorgungsoptionen habe, die zum Teil auch etwas niederschwelliger zugänglich sind, weil es inzwischen auch Brillengläser der Hersteller gibt, die vorgeben, dass sie da einen Effekt erzielen können, dann könnte ich mir vorstellen, dass hier auch weitere Kollegen aus der Augenoptik auf diesen Zug aufspringen. Auch diejenigen, die sich bisher mit dieser Thematik noch gar nicht so beschäftigt haben, weil das Thema Brillenglas vielleicht etwas vertrauter ist als eine Multifokal-Kontaktlinse oder eine Orthokeratologie-Kontaktlinse.
FOCUS: Sie lehren an der Hochschule München. Wie steht es denn um den Nachwuchs im Bereich Kinderoptometrie?
Eisenbarth: Allein das Interesse daran ist sehr groß. Im Studiengang, den ich verantworte, gab es von Beginn an ein eigenes Modul im vierten Semester mit dem Namen Kinderoptometrie. Wir haben es aber angepasst und jetzt heißt es Sonderoptometrie. Das hängt auch mit meinem Beschäftigungsfeld als Clinical Director für Special Olympics zusammen. Dort untersuche ich viele Jugendliche mit geistiger Behinderung nach Methoden, die auch aus der Kinderoptometrie kommen. Ich bin ein großer Anhänger von Lea Hyvärinen, einer finnischen Augenärztin, die sehr viele Tests entwickelt hat für behinderte und mehrfach behinderte Kinder, und diese Tests haben wir nahezu vollständig alle bei mir im Sehlabor. Wenn es aber um den Erfolg dieses Moduls geht: Wir haben mittlerweile sogar „Gast-Studenten“ von anderen deutschen Universitäten, die es unbedingt innerhalb ihrer Ausbildung besuchen möchten, und deshalb auch an der Hochschule München eingeschrieben sind. Zu diesem Modul gehört auch, dass wir seit über zehn Jahren im Sommersemester auf Exkursion gehen. 2020/2021 ist das leider ausgefallen, aber jetzt im Juni sind wir endlich wieder in Berlin bei den Special Olympics und werden diese Methoden auch wieder vor Ort anwenden.
FOCUS: Haben Sie zum Schluss noch einen Tipp, wie Kinder zum Mitmachen animiert oder gar für eine Untersuchung begeistert werden können?
Eisenbarth: Ja, zum Beispiel bei der Skiaskopie nutze ich häufig einen Kinderfilm auf meinem Tablet. Wenn es darum geht, ein Kind zum Fixieren anzuregen auf ein Objekt in der Entfernung, dann stelle das Tablet in meinem Labor auf, wo ich sonst mein Flipchart stehen habe. Die Kinder sind dann wie hypnotisiert, wenn sie diesen Film sehen können.
Ich gebe zu, ich habe mir das ein wenig abgeguckt von Kollegen der School of Optometry in Berkeley, Kalifornien. Sie nutzen das auch manchmal zwischendurch für ein kurzes Gespräch mit den Eltern. Dort gibt es eine Einheit für Kinder mit „Special Needs“, die sind oftmals auch verhaltensauffällig und klettern die Sitze sonst rauf und runter. Dann behilft man sich eben auch mit dieser Möglichkeit, um einfach mal „für Ordnung zu sorgen“. Und dazu gibt es natürlich auch zwischendurch mal ein Gummibärchen oder eine Erdnuss. Ich bin da ganz nett. (lacht)
FOCUS: Vielen Dank für das Gespräch.
Aus dem aktuellen FOCUS 6_2022.
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