Presbyopie
Bewährtes und neue Ansätze
Die Alterssichtigkeit ist die Folge einer physiologischen Alterung der Augenlinse. Die Linse verliert i.d.R. in der fünften Lebensdekade allmählich ihre Fähigkeit zur Akkommodation. Für die meisten Menschen wird das Nachlassen des Nahsehens mit Mitte vierzig bemerkbar und irgendwann sind die Arme bekanntlich einfach nicht mehr lang genug, um ohne Hilfsmittel lesen zu können. Die Presbyopie gilt als globales Problem, von dem weltweit über eine Milliarde Menschen betroffen sind.
Prognosen gehen davon aus, dass sich weltweit der Bevölkerungsanteil von Presbyopen im Jahr 2030 aufgrund der zunehmenden Myopie stabilisieren wird, dass aber aufgrund der Bevölkerungsdynamik mehr Menschen (2,1 Milliarden) betroffen sein werden.1 Die Stabilisierung des
Bevölkerungsanteils basiert auf der Annahme, dass Myopie zumindest vorübergehend mit einer besseren Nahsicht einhergeht. 2023 lag das Durchschnittsalter der deutschen
Bevölkerung laut Statista2 bei 44,6 Jahren, der durchschnittliche Deutsche stand demnach an der Schwelle zur Presbyopie oder war bereits von ihr betroffen.
Zu den Risikofaktoren für ein frühes Auftreten von Alterssichtigkeit gehören unter anderem Umweltfaktoren, Ernährung, Anforderungen im Nahbereich, Refraktionsfehler, akkommodative Störungen und Medikamente. Die Seheinschränkung wirkt sich auf die Lebensqualität aus, insbesondere auf die Qualität des Sehens, die Beteiligung am Erwerbsleben, die Arbeitsproduktivität und die finanzielle Belastung, die psychische Gesundheit, das soziale Wohlbefinden und die körperliche Gesundheit.1 Entsprechend wichtig ist, Presbyopie zu verstehen und die Betroffenen bei ihrem Management zu unterstützen.
Presbyopie verstehen und behandeln
Im April dieses Jahres hat der World Council of Optometry (WCO) in Zusammenarbeit mit EssilorLuxottica die Veröffentlichung eines globalen Behandlungsstandards für Presbyopie und das alternde Auge angekündigt. Dessen Ziel ist, durch evidenzbasierte Ressourcen einen Maßstab zu setzen, der die Aufmerksamkeit von Augenspezialisten auf die drei Säulen der Milderung, Messung und Management der Presbyopie lenkt. Zur Milderung sollen Prä-Presbyope über Presbyopie und die Alterung der Augen aufgeklärt und zu regelmäßigen Augenuntersuchungen ermutigt werden. Bei der Messung sollen sowohl subjektive als auch objektive Verfahren eingesetzt werden. Für das Management sollen die Bedürfnisse der Betroffenen berücksichtigt und entsprechende Maßnahmen angeboten werden, um so die Lebensqualität und die Augengesundheit der Augen zu verbessern. Lesen Sie mehr dazu ab Seite 22 in dieser FOCUS-Ausgabe.
Das offizielle Journal des Britischen Kontaktlinsenverbands (British Contact Lens Association BCLA), Contact Lens and Anterior Eye, hat dem Thema Presbyopie im August einen Schwerpunkt gewidmet und zahlreiche Beiträge renommierter Wissenschaftler veröffentlicht, von denen die meisten frei im Internet zugänglich sind und sich in Tiefe dem aktuellen Kenntnisstand und Behandlungsmöglichkeiten der Alterssichtigkeit widmen.3
Philip B. Morgan et al. analysierten den Kenntnisstand zum Presbyopiemanagement mit Brillen und Kontaktlinsen und kamen zu dem Schluss, dass detailliertere Forschungsanalysen zu den Entscheidungen über die klinische Behandlung der Alterssichtigkeit mit Brillen und Kontaktlinsen wünschenswert wären, zum Beispiel zum Vergleich verschiedener Brillenglasoptionen. Für die Zukunft rechnen die Wissenschaftler mit der Entwicklung mechanischer oder elektronischer akkommodierender Kontaktlinsen und weiteren Verbesserungen bei Gleitsichtgläsern sowie einer stärkeren Personalisierung der Brillenkorrekturen, um individuellen Bedürfnissen Rechnung zu tragen.4
Ein neuer Ansatz, verschiedene Presbyopielinsen zu vergleichen, besteht in der Untersuchung von Blick- und Verhaltensmetriken bei unterschiedlichen Sehentfernungen. In einer kürzlich veröffentlichten Studie wurden so multifokale Kontaktlinsen, Einstärkenkontaktlinsen und Gleitsichtgläser verglichen und gezeigt, dass die Art der Refraktionskorrektur Verhaltensmetriken wie die Lesegeschwindigkeit und das Blickverhalten beeinflusst, indem sie sich auf die horizontalen und vertikalen Kopfbewegungen auswirkt. Die Ergebnisse dieser Studie deuten darauf hin, dass Träger von multifokalen Kontaktlinsen unter bestimmten Bedingungen weniger Kopfbewegungen machen als Gleitsichtbrillenträger.5
Intraokularlinsen und Hornhautbehandlung
Neben Lesebrille, Gleitsichtbrille und Kontaktlinsen stehen als Behandlungsoption Intraokularlinsen zur Verfügung, die mit einem chirurgischen Verfahren eingesetzt werden. Diese Operation wird häufig mit einer Operation des Grauen Stars kombiniert. Dabei ist es möglich, multifokale Linsen an die Stelle der trüben Linse zu implantieren. Außerdem können sogenannte Presbylaser an der Hornhaut durchgeführt werden, bei denen multifokale Muster in die Hornhaut gelasert werden, um die Nahsicht zu verbessern.
Ophthalmologen sprechen sich jedoch gegen die alleinige Laserbehandlung der Hornhaut zur Korrektur der Presbyopie aus, da sie einer möglicherweise erforderlichen späteren Implantation von multifokalen Linsen zur Therapie des Grauen Stars entgegenstehen kann. Bei anderen Vorgehensweisen bleibt die Option auf einen späteren Linsentausch bei Grauem Star erhalten.
Bei der Monovisions-Operation wird ein Auge mit Laser oder Implantaten für Nahsicht optimiert, das andere für Fernsicht. Eine Möglichkeit, vorübergehend Monovision zu erreichen, besteht in der Implantation zusätzlicher Implantate vor die natürliche Linse. Das Fortschreiten der Presbyopie der natürlichen Linse kann jedoch dazu führen, dass nach einiger Zeit erneut Interventionen nötig sind.6
Daneben gibt es die Presbyopiekorrektur durch konduktive Keratoplastik, ein Verfahren, bei dem Radiofrequenzenergie auf das mittlere periphere Hornhautstroma aufgebracht wird, was zu einer Schrumpfung der mittleren peripheren Hornhaut und einer Versteilerung der zentralen Hornhaut führt. Der erzielte Effekt einer Hornhautbehandlung kann jedoch wieder nachlassen, da die Hornhaut- und Linsenanatomie sich mit der Zeit verändern.7 Die Eignung von operativen Verfahren wird vorab individuell für Patienten durch einen Augenarzt geprüft.
Augentropfen
Auch Arzneimittel zur Verengung der Pupille (Miotika), wie Pilocarpin, zur Korrektur der Presbyopie werden erforscht bzw. in den USA bereits eingesetzt. Eine miotische Pupille erhöht die Schärfentiefe, allerdings auf Kosten einer geringeren Netzhautleuchtdichte. Pilocarpin hat einige Nebenwirkungen wie verschwommenes Sehen, schlechtes Nachtsehen und Kopfschmerzen. Die langfristige Sicherheit und Wirksamkeit von Augentropfen bei der Behandlung von Alterssichtigkeit ist noch nicht bestätigt, aber die Entwicklung wird von verschiedenen Pharmaherstellern vorangetrieben8, so dass in näherer Zukunft mit neuen Ergebnissen gerechnet werden kann. Im der FOCUS-Ausgabe 9/2023 wurde ausführlich über diese pharmakologische Behandlungsoption berichtet (S. 28).
Neue Forschungsansätze
Als neues operatives Verfahren wird derzeit die sklerale Laser-Mikroporation (laser scleral microporation, LSM) erforscht. Sie beruht auf der Wiederherstellung der normalen biomechanischen Bewegungen des mit dem Alter steifer gewordenen Augenbindegewebes. Die Steifigkeit wirkt sich auf die Akkommodations- und Relaxationsfunktionen des natürlichen dynamischen Fokusbereichs (Dynamic Range of Focus DROF) aus. Bei dieser Lasertherapie werden Teilbereiche des vernetzten Gewebes in der Sklera, der äußeren Hülle des Augapfels, verdampft, wodurch das Gewebe nachgiebiger wird und sich besser mit den Ziliarmuskelkräften bewegen kann.8 In Manila, Philippinen, hat Dr. Robert T. Ang dazu eine zweijährige klinische Pilotstudie mit 100 Augen von 50 Patienten mit Emmetropie und Presbyopie durchgeführt. Laut Ang brauchte eine Mehrzahl der Patienten nach der Behandlung für die meisten Aufgaben kein Lesegerät und berichteten ihm anekdotisch, dass sie keine Kopfschmerzen mehr hatten, wenn sie versuchten, sich in der Nähe zu konzentrieren. Der Autor der Pilotstudie erklärt, dass er von dem Potenzial der LSM, die biomechanische Steifigkeit der Sklera zu verringern und den natürlichen DROF zu verjüngen, begeistert ist und die Datenerhebung fortgesetzt wird.9
Außer den neuen operativen Ansätzen werden die Wirksamkeit von Nahrungsergänzungsmitteln und Biofeedbacksysteme erforscht.
Zu den untersuchten Nahrungsergänzungsmitteln gehören beispielsweise Astaxanthin und Lutein. Astaxanthin, ein rot-orangefarbenes Carotinoid, das in Fisch wie Lachs und Meeresfrüchten wie Garnelen und Krabben vorkommt, wirkt im menschlichen Kammerwasser als Antioxidans. Auch Lutein ist ein Antioxidans, das in verschiedenen Gemüsesorten vorkommt. In der Augenlinse kann es die Versteifung der Linsenproteine durch Oxidation verringern und es gibt Vermutungen, dass es die antioxidativen Eigenschaften von Astaxanthin verstärken könnte. Bisherige Studien zu Nahrungsergänzungsmitteln waren eher klein angelegt und von begrenzter Aussagekraft, ihre Ergebnisse könnten aber durchaus weitere Untersuchungen anstoßen, so dass auch hier Aussicht auf neue Erkenntnisse besteht.8
In den vergangenen Jahren wird bei der Presbyopiekorrektur auch ein neuer Ansatz erprobt, bei dem ein Biofeedback-System (Elektromyographie-Signale, EMG) zur Steuerung von Brillengläsern erprobt wird, das Potenzial zur Linderung von Ermüdungserscheinungen der Augen, insbesondere der Ziliarmuskeln, bieten soll. Die Anwender können die optische Leistung ihrer Brille regulieren, dadurch eine Entspannung der Ziliarmuskeln bewirken und Ermüdungserscheinungen lindern. Bisher wird die Wirksamkeit in erster Linie durch subjektive Personenwahrnehmungstests geprüft. Um eine objektive Bewertung von solchen Systemen zu ermöglichen und den Weg für weitere Fortschritte auf diesem Gebiet zu ebnen, haben Forscher einen Versuchsaufbau entworfen, der das Potenzial für eine statistische Bewertung haben soll.10
Forscher an der Universität in Santiago de Compostela, Spanien, haben ein kostengünstiges Verfahren zur Herstellung von selbsthaftenden Polydimethylsiloxan (PDMS) Linsen für Presbyopie entwickelt. PDMS ist ein organisches Polymer auf Siliziumbasis, das zu den bevorzugten Materialien für optische Anwendungen und für die Herstellung von Komponenten für biomedizinische Zwecke gehört. Die spanischen Forscher verwendeten die Rückseiten von Brillengläsern und Testlinsen als Urformen für die Herstellung von selbsthaftenden Linsen mit positiver Brechkraft aus PDMS. Diese Linsen haben eine konvexe Vorderseite und eine flache Rückseite, die mit geringem Druck an der Vorderseite eines Brillenglases angehaftet werden kann. Die Entwickler testeten die Sehqualität an einem kurzsichtigen Kunstauge und verglichen sie mit im Handel erhältlichen Linsen, wobei sie zu besseren Ergebnissen mit weniger induziertem Astigmatismus kamen.11 Für einige Presbyope mag so eine „Haftlinse“ interessant sein, z.B. wenn die Anschaffung einer neuen Brille noch warten muss, weil in den Wochen nach einer Linsenoperation die Refraktionswerte nicht stabil sind oder sie keinen Zugang zu professioneller Versorgung haben.
Der Bedarf weiterer Forschung ist vorhanden
Die Möglichkeiten Alterssichtigkeit zu begegnen sind vielfältig und können in Wohlstandsgesellschaften auf die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen abgestimmt werden. Angesichts der steigenden Anzahl an Presbyopen geht die Erforschung der Entstehungsmechanismen der Presbyopie ebenso weiter wie die Weiterentwicklung bewährter Behandlungsoptionen und neuer, noch im Anfangsstadium stehenden Ansätzen, die in den nächsten Jahren entweder verworfen werden oder zur Reife gelangen könnten.
Referenzen:
1. Maria Markoulli, Timothy R Fricke, Anitha Arvind, Kevin D. Frick, Kerryn M Hart, Mahesh R Joshi, Himal Kandel, Antonio Filipe Macedo, Dimitra Makrynioti, Neil Retallic, Nery Garcia-Porta, Gauri Shrestha, James S. Wolffsohn, BCLA CLEAR Presbyopia: Epidemiology and impact, Contact Lens and Anterior Eye, Volume 47, Issue 4, 2024, 102157, ISSN 1367-0484, https://doi.org/10.1016/j.clae.2024.102157.
2. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1084430/umfrage/durchschnittsalter-der-bevoelkerung-in-deutschland/.
3. Contact Lens and Anterior Eye, Volume 47, Issue 4, 2024, 102263, ISSN 1367-0484, https://doi.org/10.1016/S1367-0484(24)00155-3.
4. Philip B. Morgan, Nathan Efron, Eric Papas, Melissa Barnett, Nicole Carnt, Debarun Dutta, Andy Hepworth, Julie-Anne Little, Manbir Nagra, Heiko Pult, Helmer Schweizer, Bridgitte Shen Lee, Lakshman N. Subbaraman, Anna Sulley, Alicia Thompson, Alexandra Webster, Maria Markoulli, BCLA CLEAR Presbyopia: Management with contact lenses and spectacles, Contact Lens and Anterior Eye, Volume 47, Issue 4, 2024, 102158, ISSN 1367-0484, https://doi.org/10.1016/j.clae.2024.102158.
5. Smith SL, Maldonado-Codina C, Morgan PB, Read ML. Gaze and behavioural metrics in the refractive correction of presbyopia. Ophthalmic Physiol Opt. 2024; 44: 774–786. https://doi.org/10.1111/opo.13310.
6. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/137817/Ophthalmologen-raten-von-alleiniger-Laserbehandlung-zur-Presbyopiekorrektur-ab
7. Jennifer P. Craig, Allon Barsam, Connie Chen, Obinwanne Chukwuemeka, Neema Ghorbani-Mojarrad, Florian Kretz, Langis Michaud, Johnny Moore, Lucia Pelosini, Andrew M.J. Turnbull, Stephen J. Vincent, Michael T.M. Wang, Mohammed Ziaei, James S. Wolffsohn, BCLA CLEAR Presbyopia: Management with corneal techniques, Contact Lens and Anterior Eye, Volume 47, Issue 4, 2024, 102190, ISSN 1367-0484, https://doi.org/10.1016/j.clae.2024.102190.
8. Shehzad A. Naroo, Craig A. Woods, Raquel Gil-Cazorla, Robert E. Ang, Mariana Collazos, Frank Eperjesi, Michel Guillon, AnnMarie Hipsley, Mitchell A. Jackson, Edwin R. Price, James S. Wolffsohn, BCLA CLEAR presbyopia: Management with scleral techniques, lens softening, pharmaceutical and nutritional therapies, Contact Lens and Anterior Eye, Volume 47, Issue 4, 2024, 102191, ISSN 1367-0484, https://doi.org/10.1016/j.clae.2024.102191.
9. Robert T Ang, MD, Two-year results of laser scleral microporation. Digital EditionOphthalmology Times: November 2023, Volume 48, Issue 11, www.ophthalmologytimes.com/view/two-year-results-of-laser-scleral-microporation.
10. Germán Yamhure, Arturo Fajardo, C.I. Paez-Rueda, Gabriel Perilla, Manuel Pérez, On the controllability assessment of biofeedback eyeglasses used in Presbyopia treatment, Displays, Volume 79, 2023, 102497, ISSN 0141-9382, https://doi.org/10.1016/j.displa.2023.102497.
11. Ana Isabel Gómez-Varela, Alejandro Fernández-Rodríguez, Carmen Bao-Varela, Justo Arines, Low-cost method for manufacturing self-adherent PDMS lenses for presbyopia, Optics & Laser Technology, Volume 163,2023, 109445,ISSN 0030-3992, https://doi.org/10.1016/j.optlastec.2023.109445.