Das neue Rodenstock-Gleitsichtglas
Forschung und Entwicklung aus München
Auf der Opti 2025 stellte Rodenstock sein nagelneues Brillenglas vor: Das Big Exact Sensitive. Ein Term im Satz von Minkwitz machte es möglich, einen neuen Freiheitsgrad in der Berechnung zu berücksichtigen. Die Folge ist eine neue Dimension der Individualisierung, die diesmal die Sehempfindlichkeit der Nutzer in Betracht zieht und so ein Brillenglasdesign hervorbringt, das ideal auf ihn zugeschnitten ist.
Damit wurde erneut ein Produkt aus dem BIG Vision-Portfolio vorgestellt, deren Startschuss bereits im Jahr 2020 auf der Opti erfolgte. Schon sechs Monate später forschte man damals in dem Bereich weiter, um die nächste Stufe der Evolution der Big Data-Gläser zu zünden.
Nicht jeder hat die gleiche Wahrnehmung
„Möglich macht es der DNEye Scanner und der riesige Datenpool, der in der Branche einzigartig ist“, sagte Thomas Pfanner, General Manager für Deutschland und Österreich bei Rodenstock zur Begrüßung der Pressevertreter. „Mithilfe dieses Datenpools und durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz können wir eine neue Ära der Individualisierung einleiten.“
So habe man festgestellt, dass nicht nur die Biometrie des Auges, sondern auch die visuelle Sensitivität jedes Menschen unverwechselbar sei und in Korrelation stehe.
„Jeder Mensch und jedes Auge sind einzigartig, jeder Seheindruck wird unterschiedlich wahrgenommen und daher sollte auch jedes Brillenglas individuell auf die Sehanforderungen eines jeden Brillenträgers zugeschnitten sein“, so Pfanner weiter.
Vor knapp fünf Jahren habe man also mit den ersten beiden komplexen Trageversuchen begonnen. Eine physiologische Blickfeldstudie kam schließlich auch hinzu und die gewonnene Erkenntnis war, dass diese beiden Dinge miteinander zusammenhängen.
Sensitivitätsindex
Im nächsten Schritt wurde untersucht, was genau die visuelle Sensitivität ist. Kurz gesagt, ist es die unterschiedliche Empfindung, wie Menschen auf Aberrationen reagieren. Um dies messbar zu machen, haben die Designer aus Forschung und Entwicklung den sogenannten Sensitivitätsindex entwickelt.
Menschen mit einer niedrigen visuellen Sensitivität nehmen Abbildungsfehler kaum wahr, während Personen am anderen Ende der Skala sehr empfindlich darauf reagieren. Kennt man nun diesen Parameter, lässt sich ein Brillenglasdesign entwickeln, das genau auf diese Person zugeschnitten ist.
Diese Aberrationen können nun vor diesem Hintergrund in unterschiedliche Bereiche im Brillenglas angeordnet werden. Person A, die vollkommen unempfindlich ist, bekommt ein Glasdesign mit gleichmäßigeren Aberrationsfeldern und weicheren Übergangszonen. In ihrer Wahrnehmung erhält sie dadurch breitere Sehbereiche. Wohingegen Person B, die sehr empfindlich reagiert, ein Glasdesign mit kleineren, konzentrierten Aberrationsfeldern in der Peripherie erhält, was ebenfalls zu größeren, störungsfreien Aberrationszonen führt und ihr eine störungsfreie Sicht bietet. Brillenträgern bietet Big Exact Sensitive, unabhängig von ihrem persönlichen Sensitivitätsindex, dadurch ein verbessertes übergangloses, dynamisches Sehen, einen verbesserten Lesefluss und eine verbesserte Orientierung.
Aus Forschung und Entwicklung
Was das genau bedeutet, und welchen Stellenwert diese Entwicklungen für den Brillenglashersteller haben, schildern im folgenden Interview Dr. Gregor Esser, Director Research & Development Optics, und Dr. Dietmar Uttenweiler, Executive Vice President Innovation, von Rodenstock:
FOCUS: Rodenstock präsentiert in relativ kurzer Zeit immer wieder Innovationen. Wird man da auch international auf Ihre Expertise aufmerksam? Spielt Made in Germany auch eine Rolle?
Uttenweiler: Ja natürlich, Innovationen sind Teil unserer DNA und daher werden wir auch so wahrgenommen. Dennoch gibt es immer wieder Experten in unserer Branche, die überrascht sind, dass wir im Herzen von München eine Forschungs- und Entwicklungsabteilung haben, die immer wieder diese Innovationen hervorbringt. Dazu gehören z.B. nicht nur die Entwicklung unserer photochromen Farbstoffe für Brillengläser, sondern auch deren Produktion. Im Hochtechnologiebereich ist Stillstand eine Rückwärtsbewegung, daher denken wir immer einen Schritt weiter.
FOCUS: Ist der Druck, ständig Neues hervorzubringen, in der Branche groß?
Uttenweiler: Wir entwickeln nicht alle ein bis zwei Jahre etwas und dann kommt was Neues. Es ist vielmehr so, dass wir Technologieplattformen entwickeln, auf denen wir dann aufbauen und auf deren Basis wir stetig patentierte Neuheiten hervorbringen. Dazu gehört unsere jüngste Entwicklung der Big Exact Sensitive-Brillengläser. Diese bauen wiederum auf der aktuellen Generation unserer biometrischen Brillengläser auf. Und auch diese Entwicklung hat einen langen Vorlauf. Aktuell sind wir der einzige Hersteller, der die Biometrie nicht nur erfasst, sondern direkt bei der Brillenglasherstellung ein vollständiges biometrisches Augenmodell berücksichtigt.
FOCUS: Welche Rolle spielen Big Data und KI bei diesen Entwicklungen?
Esser: Es gibt natürlich viele Aspekte, jedoch spielen Big Data und KI eine sehr große Rolle. Ich bin jedoch absolut davon überzeugt, im Vorfeld stets analytisch vorzugehen. Sicher lassen sich Korrelationen aus einem großen Datenpool ableiten, um Schlüsse daraus zu ziehen. Doch das allein reicht nicht!
Es ist immer unser Ziel, zunächst die analytische Herleitung zu betrachten, um beispielsweise – wie im jüngsten Fall – das Design in Peripherie und im Zentrum zu verbessern.
Die Entwicklung über Herleitungen lassen sich zudem mathematisch belegen und auch wissenschaftlich veröffentlichen. Sie sind die Basis für die Neuentwicklung oder Weiterentwicklung eines Designs – dann erst kommt Big Data ins Spiel.
Um es kurz zu sagen: Zunächst müssen funktionale Zusammenhänge erkannt werden und welchen Einfluss sie haben – und dann kann man Big Data sinnvoll dafür nutzen.
FOCUS: Wie lange hat es in diesem Fall von Big Exact Sensitive genau gedauert – von der Idee bis zum fertigen Produkt?
Uttenweiler: Ich würde sagen, es hat viel zu lange gedauert. (Beide lachen)
Esser: Es gibt verschiedene Ausgangspunkte. Viele stellen es sich so vor, als habe man einen Projektstart und arbeitet die anfallenden Punkte ab, bis man schließlich ein fertiges Produkt hat. In diesem Fall war es jedoch so, dass wir länger an den Grundlagen geforscht haben, die dann schließlich diese Entwicklung angestoßen haben.
Zudem haben wir parallel beim Satz von Minkwitz einen zusätzlichen Term gefunden, der einen weiteren Aspekt berücksichtigen kann. Da hatten wir zunächst ebenfalls etwas leicht anderes im Fokus, wie man anwenderspezifische Optiken berücksichtigen kann. Im Zuge der Forschung ist jedoch diese Möglichkeit herausgearbeitet worden und diesen Weg sind wir weitergegangen. Hier haben wir in unserem wissenschaftlichen Fachartikel auch im Fazit darauf hingewiesen, dass sich damit keine aberrationsfreien Brillengläser herstellen lassen, aber dass sich der zusätzliche Freiheitsgrad nutzen lässt, um Brillengläser zu verbessern.
Um zurückzukommen: Es ist schwierig, einen ganz genauen Zeitpunkt festzulegen, wann die Entwicklung begonnen hat.
FOCUS: Bei biometrischen Brillengläsern gab es bisher zwei Ansätze: Big Norm und Big Exact. Wie genau geht der Augenoptiker vor, wenn er dieses neue Brillenglas einsetzen möchte?
Uttenweiler: Da es sich um Big Exact handelt, ist eine Vermessung mit dem DNEye Scanner erforderlich. Zudem sollten idealerweise noch der Visus des Brillenträgers sowie eine subjektive Refraktion angegeben werden. Die Bestimmung ist für Augenoptiker recht einfach und wurde bisher weitestgehend auch schon so gemacht.
FOCUS: Wie kommunizieren Augenoptiker die Vorteile dieser Innovation weiter an ihre Kunden?
Uttenweiler: Die Spontanverträglichkeit ist sehr hoch! Der Brillenträger nimmt die Sehbereiche sehr breit wahr und erhält eine scharfe Sicht. Das gilt für beide Personenkreise auf der Skala.
Esser: Vorher hatten wir bereits biometrische Brillengläser mit einem hohen Grad der Individualisierung. Jetzt können wir die Sehbereiche genauer an die Anforderungen anpassen. Vorher hatten wir einen Standard-Visusabfall, dieser war für alle gleich. Nun können wir entsprechend das Design anpassen, wenn z.B. jemand einen Unterschied von 0,25 dpt nicht wahrnehmen kann. Bis zu seiner Wahrnehmungsschwelle können somit mehr Aberrationen zugemutet werden. Das hat zur Folge, dass die Sehfelder weiche Übergänge haben und die Bereiche größer wahrgenommen werden können.
FOCUS: Wissen Sie wie sich die Verbraucher unterscheiden? Gibt es mehr sensitive oder weniger sensitive Brillenträger?
Esser: Ja, wir haben dazu die Bestelldaten ausgewertet und haben uns die Korrelation von Sehschärfe und Sensitivität angeschaut. Grob geclustert konnten wir feststellen: 40% haben eine hohe Sehschärfe und eine hohe visuelle Sensitivität, 8% eine hohe Sehschärfe und eine niedrige visuelle Sensitivität, 17% eine mittlere Sehschärfe und eine mittlere Sensitivität, 4% eine niedrige Sehschärfe und eine hohe visuelle Sensitivität, 31% eine niedrige Sehschärfe und eine niedrige visuelle Sensitivität.
FOCUS: Wie groß ist die R+D Abteilung?
Uttenweiler: Wir sind im Vergleich zu den großen Mitbewerbern klein, aber fein! Wir haben absolute Spezialisten, die in ihren jeweiligen Fachgebieten einzigartig sind.
Sie finden im Optikbereich weltweit nur eine Handvoll Menschen, mit denen sich das Team von Dr. Esser in diesem speziellen Feld austauschen kann. In der Photochemie haben gibt es weltweit ebenfalls nur wenige Spezialisten. Ich denke, es ist für ein Unternehmen wichtig, wie strategisch in der Forschung und Entwicklung vorgegangen wird und dass die wenigen, die das machen sehr nah an den Wünschen des Markts arbeiten. Also kurz gesagt: Effektiv zu sein.
FOCUS: Gehen die Kunden mit den Innovationen immer gerne mit?
Uttenweiler: Ja, da es sie bei deren Positionierung im Alltag unterstützt. Und sie wissen: Was wir entwickeln, funktioniert.
Esser: Kurz vor dem Marktstart hatten wir die Möglichkeit, vorab schon einmal eine ausgewählte Anzahl unserer engsten Partner mit Big Exact Sensitive auszustatten und haben eine überwältigend positive Resonanz erhalten. Deshalb freuen uns wir uns nun sehr auf die Markteinführung und weitere positive Stimmen aus dem Markt.