Schaffen wir uns ab?

05.01.2022

Es gibt verschiedene Gründe, den Beruf des Augenoptikers zu ergreifen. Manche von Ihnen, liebe Leser, sind vielleicht über das Handwerk und die Aussichten Brillen bauen zu können in diesen Beruf gekommen. Andere sind Verkaufsprofis und lieben die Beratung ihrer Kunden. Viele von Ihnen haben auch den Beruf des Augenoptikers ergriffen, um im direkten Kontakt zu ihren Kunden, aktiv daran beteiligt zu sein, Menschen mit ihren Seh-Problemen zu helfen.

Hand aufs Herz, was gibt es Schöneres, als mit einer guten ­Refraktion den Visus ordentlich anzuheben. Der Moment, wenn später die Brille oder die Kontaktlinsen aufgesetzt werden und ein anerkennendes Nicken in Ihre Richtung signalisiert: Sie ­haben alles richtig gemacht – und einen Kunden glücklich.

Wahrscheinlich haben Sie diesen Beruf ergriffen, weil er so ­facettenreich ist, weil Handwerk auf Gesundheit trifft. Sägespäne und Lötflamme auf Fluoreszein und Sehanalyse. Schleifsand auf frisch desinfizierte Kontaktflächen. Viele Augenoptiker beherrschen die gesamte Klaviatur unseres Berufs, andere haben eine Inselbegabung oder sich auf einen Aspekt spezialisiert. Doch allen gemein ist die Nähe zum Kunden.

Wenn ich Ihnen nun sage, dass Sie als Augenoptiker zukünftig auch aus dem Home-Office agieren könnten, hört sich das zunächst wie ein schlechter Scherz an. Doch die Gesetzeslage zur Telemedizin hatte vor einiger Zeit genau diesen Weg bereitet. 

Es hat nicht lange gedauert und ein Hybrid-Optiker hat einen Weg für sich gefunden, die Refraktion aus der physischen Existenz des Augenoptikgeschäfts herauszuholen und es ­outzusourcen.
Sie als Augenoptiker sitzen bei der Refraktion dann nicht mehr Kunden gegenüber, sondern sind räumlich voneinander getrennt, oftmals über mehrere hundert Kilometer. 

Aus der Ferne werden heutzutage bereits Augenscreenings durchgeführt, Sprechstunden per Video-Call angeboten oder Krankschreibungen als Fernleistung ausgestellt. Einfache Messungen werden automatisiert und sind teilweise ganz ohne Fachkraft vor Ort durchführbar. Auch die Terminvergabe hat sich verselbständigt. Doctolib übernimmt das Management vollkommen autark.

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Und auch für die Messung der PD gibt es eine ganze Reihe von Apps, die für diesen Zweck saubere und verlässliche Daten produzieren. Was also wird vom Augenoptiker in der Brillenoptik am Point of Sale überhaupt noch gebraucht? Der Werkstattalleskönner? Der ist bei so einer Geschäftsform weit weg in einer Zentralwerkstatt oder gar in China. Der Augenoptiker als Berater? Bald über 3D-vermessenene Gesichter und passender KI für selbstbewusste Kunden obsolet. Glasberatung? Entscheidet der Kunde mittels Beratungsterminals zukünftig selbst. Ein weiterer Anbieter ist übrigens gerade noch einen Schritt weitergegangen: Hier wird für die Refraktion nicht mal mehr der Augenoptiker gebraucht. Der Kunde kann sich ganz allein in seinem Wohnzimmer seine Stärken selbst verordnen.  

Ein kurzer Rückblick: Vor nicht mal 15 Jahren sah die Welt der Augenoptik ganz anders aus. Selbst eine „mobile Augenoptik“ war da noch völlig unanständig. Augenoptiker, die losgelöst von Ladenlokalen auf Reise gingen, konnten dies nur in Ausnahmefällen machen, selbst wenn sie vollständig ausgerüstet waren, alle Urkunden vorweisen konnten und sich auf Klientel eingestellt hatten, die nicht mehr selbst mobil sind. Hier wurde sehr genau hingeschaut, wenn sich Kollegen dabei zu weit auf die Straße wagten.

Wer schaut jetzt genau hin? Schaffen wir uns selbst ab oder werden wir durch Dritte abgeschafft und fragen uns in ein paar Jahren, was da eigentlich passiert ist?

Es gibt jedoch tatsächlich noch ein paar Dinge, für die der Augenoptiker vor Ort unerlässlich ist. Denn er muss die ­Brillenfassungen beispielsweise professionell anpassen. Das haben Anbieter, die vormals Brillen nur online angeboten hatten, schnell gelernt. Da wurde eilig auf ein Partner-Netz von Augenoptikern gesetzt und schließlich wurden eigene Stores eröffnet. Denn: Dieser scheinbar simple Akt der Brillenabgabe ist unerlässlich. 

Der Augenoptiker ist zudem als Person, die durch ihren ­Meisterbrief oder ähnliches, die Geschäftstätigkeit legitimiert, zwingend notwendig. Immerhin ist an der Meisterpflicht nicht zu rütteln. Oder doch? 

Wir sprechen uns in 10 Jahren wieder.

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