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Wegweiser Myopie-Management in Deutschland

Vom Trend zur Verantwortung

Ein Kind mit Brille fiel früher mehr auf als heute. Es war ungewöhnlich und führte manchmal zu Hänseleien. Heutzutage ist das anders: Kinder, die ohne Sehhilfe gut sehen, werden weniger. Die medizinisch als Myopie bezeichnete Kurzsichtigkeit ist bei Kindern präsenter: in Schulklassen, Familien und im augenoptischen Alltag. Es handelt sich nicht um einen „Trend“, sondern um eine globale Herausforderung, die konkrete Auswirkungen auf unseren Berufsalltag hat. Eine grundlegende Frage für Augenoptiker und Augenärzte in Deutschland lautet: Wie bewältigen wir diese Herausforderung? Der folgende Beitrag hat das Ziel, zu informieren und zum Handeln zu motivieren. Er soll sowohl zum Umdenken als auch zu einem neuen Selbstverständnis im Dialog mit den Eltern der Betroffenen anregen.

Handeln statt abwarten: Warum Information der erste Schritt ist

Welche ist die größte Herausforderung im Umgang mit der kindlichen Myopie? Es ist nicht die fehlende Produktvielfalt, Messtechnik oder Wissen zur Myopie bei Augenoptikern oder Augenärzten – es ist das Bewusstsein bei den Eltern und Kurzsichtigen. Oder besser: das Fehlen davon.

Für die meisten Eltern ist Myopie eine Sehschwäche, wie jede andere auch und erfährt somit kaum Aufmerksamkeit oder wird bagatellisiert: „Der kriegt halt eine Brille, so wie ich früher“, ist eine häufig gehörte Antwort. Wie wir mittlerweile wissen, wird eine Myopie von vielen Faktoren beeinflusst und ist nicht „einfach da“. Sie kann fortschreiten, wenn das Längenwachstum vom natürlichen Prozess der Emmetropisierung abweicht. Als Folge davon kann das ­Risiko für Augenerkrankungen im Erwachsenenalter erhöht sein. Und das wissen die wenigsten Betroffenen.

Aus diesem Grund beginnt jedes Myopie-Management nicht nur mit der Messung, sondern mit einem Gespräch mit den Eltern und dem Kind/Jugendlichen. 

Mit Geduld, Einfühlungsvermögen und Verantwortung werden die Eltern informiert. Manchmal helfen konkrete Beispiele aus der Praxis, um Vertrauen in die Sache zu erhöhen.

Die einfache Frage: „Darf ich Ihnen zeigen, wie sich die Sehstärke Ihres Kindes in den nächsten Jahren voraussichtlich verändern wird, wenn wir jetzt nicht handeln?“ wirkt oft mehr als jedes Fachwort. Noch eindrücklicher wird es, wenn Eltern an speziellen Simulationen erleben können, wie sich eine Kurzsichtigkeit entwickelt. Erst wenn das Unsichtbare sichtbar wird, beginnt das Verstehen.

Mehr als nur Sehhilfen: Ein Markt in Bewegung

Die gute Nachricht: In den vergangenen Jahren wurde ein beeindruckendes Spektrum an wissenschaftlich fundierten Methoden entwickelt, um das Fortschreiten der Myopie zu behandeln. Und das Angebot wächst ständig. 

Von speziell gefertigten Brillengläsern (z.B. mit DIMS- oder H.A.L.T.-Technologie) über zertifizierte weiche Kontaktlinsen (als Tages-, Monats-, konventionelle- und Mehrstärkenlinsen) sowie Orthokeratologie-Kontaktlinsen bis hin zu niedrig dosierten Atropin-Tropfen – die Auswahl ist vielfältig und für jeden Augenoptiker eine Lösung dabei, mit der er sich wohlfühlt.

Es finden sich mittlerweile auch einige hybride Versorgungskonzepte auf dem Markt. Dabei werden beispielsweise Kontaktlinsen zusammen mit einer Brille mit Myopie-Gläsern oder Kontaktlinsen mit Atropin kombiniert. Das Ganze kann dann durch digitale Therapiepläne begleitet werden. Dabei gilt: Nicht jedes Produkt passt für jedes Kind – der Schlüssel liegt in der Individualisierung. Es empfiehlt sich, mindestens zwei Lösungen im Portfolio anzubieten.

Für den augenoptischen Betrieb bedeutet das: Die wirtschaftliche Entscheidung sollte nie losgelöst von der medizinischen Verantwortung getroffen werden. Wer sich einen Überblick über Wirkmechanismen, Zielgruppen und Langzeitergebnisse verschafft, handelt nicht nur klug, sondern auch zukunftssicher.

Strukturen schaffen – so gelingt der Einstieg 

Ein funktionierendes Myopie-Management ist kein Einzel-, sondern ein Teamprojekt. Es beginnt mit einer bewussten Entscheidung: Wollen wir Myopie-Management als festen Bestandteil in unserem täglichen Geschäft etablieren? Haben wir die personellen und zeitlichen Kapazitäten? Sind wir bereit, in Fortbildung und Messtechnik zu investieren?

Wenn diese Fragen bejaht werden, sollten entsprechende Maßnahmen folgen:

  • Schulung des gesamten Teams, insbesondere der Teammitglieder, die hauptsächlich im Verkauf tätig sind. Da sie den ersten Kontakt mit den Kindern und ihren Eltern haben, sollten sie in der Lage sein, diese zu informieren.
  • Zeitfenster im Terminkalender festlegen, die für das Myopie­-Management freigehalten werden.
  • Kommunikation trainieren, um Unsicherheiten zu überwinden.
  • Sicherheit im Umgang mit der Messtechnik üben. Tipp: Bei jedem Kunden die Achslänge messen.
  • Zudem sind die Abläufe des Myopie-Managements festzulegen:
  • Screening ab dem 6. Lebensjahr – bei Risikofaktoren auch früher.
  • Erhebung von Axiallänge und familiärer Anamnese.
  • Aufklärung der Eltern inklusive schriftlicher Einwilligung.
  • Individuelle Produktwahl und halbjährliche Kontrollen.
  • Dokumentation und ggf. Kommunikation mit Fachärzten.

Websites wie „Myopiacare“ oder „Myopiaprofile“ bieten ­Ihnen Fragebögen, Leitfäden, Marketingmaterial in Form von Drucksachen und Schulungen. Oft kostenlos.

Myopiaprofile” ist eine englischsprachige Website mit deutschsprachigen Schulungen und Materialien.

Neyece“ ist ein Netzwerk für Augenoptiker, die sich dem Myopie-Management verschrieben haben.

Mittlerweile gibt es eine große Auswahl an Messtechnik, um ein professionelles Myopie-Management anbieten zu können. Fast immer ist eine Software zur Dokumentation und Visualisierung des Verlaufs enthalten.

Eltern in Deutschland: Zwischen Diagnose und Dialog 

Viele Akteure des Myopie-Managements stellen sich oft die Frage: Warum sind Eltern in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern so zurückhaltend, wenn es um das Thema Myopie-Management geht? Was könnten die Gründe dafür sein?

Gesundheit = Kassenleistung: In Deutschland ist das Gesundheitssystem stark geprägt von der Erwartung, dass medizinisch notwendige Leistungen von den Krankenkassen übernommen werden. Wenn dies nicht der Fall ist, wie beispielsweise beim Myopie-Management, wird die Maßnahme schnell als „nice to have“ oder gar als „Marketingtrick“ empfunden.

Brille als Lösung, nicht als Signal: Für viele Eltern stellt eine Brille eine geeignete Methode zur Korrektur einer Sehschwäche dar. Dieses Bild ist vertraut und funktional. Dass eine progressive Myopie langfristige Risiken birgt, ist wenig bekannt oder wird unterschätzt. Es fehlt oft das Verständnis, dass die „normale“ Brille nur Symptome korrigiert, nicht aber das Fortschreiten aufhält.

Unsicherheit und Informationsdefizit: Eltern verfügen heutzutage über ein umfangreiches Informationsspektrum, wobei die Quellen nicht immer den erforderlichen Seriositätsstandards entsprechen. Wenn das Management der Myopie nicht eindeutig, konkret und vertrauensvoll erklärt wird, entscheiden sich viele für den Weg des geringsten Widerstands: Sie warten ab.

Geld ist selten das Hauptproblem – sondern der innere Wertmaßstab: Eltern tätigen oft erhebliche Investitionen in Form von Nachhilfe, Sportvereinen oder Musikunterricht, da sie in diesen Bereichen einen erkennbaren Sinn und eine erkennbare­ Wirkung sehen. In der Regel wird dieser emotional aufgeladene Sinn beim Myopie-Management nicht erreicht.

Wie erreichen wir Veränderung im Bewusstsein der Entscheider?

Eine gut geführte augenoptische Beratung ist heute genauso gefragt wie Fachwissen. Es geht darum, Beziehungen aufzubauen, Ängste abzubauen und Werte zu aktivieren. Myopie-Management ist erklärungsbedürftig – nicht nur fachlich, sondern auch emotional.

Wer Eltern dort abholt, wo sie emotional stehen – bei der Sorge um das Wohl ihrer Kinder – schafft Vertrauen und eröffnet Handlungsbereitschaft. Die Botschaft: Es geht nicht nur ums Sehen, sondern um Lebensqualität – auch im Erwachsenenalter. 

Systemisches Denken liefert hier wertvolle Impulse: Eltern entscheiden nicht rein rational, sondern im Kontext ihrer Rollen, Werte und familiären Erfahrungen. Ein klug geführtes Gespräch kann helfen, Blockaden aufzulösen.

Werte sichtbar machen: Was ist den Eltern wirklich wichtig?

Ein Ansatz könnte sein, mit einer wertorientierten Gesprächsführung zu beginnen:

„Was wünschen Sie sich für die Zukunft Ihres Kindes?“

„Welche Rolle spielen dabei Eigenständigkeit, Konzentrationsfähigkeit oder Gesundheit?“

Diese Fragen regen zur Reflexion an. Myopie-Management wird in diesem Fall nicht länger als Kostenfaktor betrachtet, sondern als aktiver Beitrag zur Erreichung dieser Werte.

Wirkungen erlebbar machen, statt nur erklären

Die menschliche Veränderung findet in der Regel nicht auf der Grundlage von Fakten statt, sondern durch die Erfahrungen, die im Laufe eines Lebens gesammelt werden. Ein kurzer Sehtest mit Simulation einer höheren Myopie-Progression, ein Vorher-Nachher-Beispiel oder eine einfache Visualisierung der Axiallängenveränderung können Aha-Momente schaffen. Getreu dem Motto: Handlungsspielräume durch Erlebnisse erweitern – nicht nur durch reine Information.

Verantwortung statt Schuld kommunizieren

Es ist von entscheidender Bedeutung, Eltern nicht das Gefühl zu vermitteln, dass sie versagt haben, nur weil sie bisher keine Maßnahmen ergriffen haben. Stattdessen sollten Augenoptiker signalisieren, dass Sie die Bereitschaft der Eltern, Zeit in ein Erstgespräch zu investieren, sowie ihren Veränderungswillen wertschätzen und bestätigen.

Diese Haltung aktiviert das Selbstwirksamkeitsempfinden, welches ein zentraler Faktor für die Bereitschaft zur Veränderung ist.

Investition neu rahmen: Vom Preis zur Bedeutung

Ein bewährter Ansatz ist das Reframing. Anstatt über Kosten zu sprechen, kann die Beratung die Bedeutung in den Vordergrund rücken. Möglich wären diese Aussagen:

„Es geht nicht um eine Brille, sondern darum, wie Ihr Kind in zehn Jahren sehen kann.“

„Hier investieren Sie nicht nur in Sehschärfe, sondern auch in Lernfähigkeit, Lebensqualität und Sicherheit.“

Veränderung beginnt mit Beziehung, nicht mit Argumenten

Myopie-Management ist kein rein fachliches, sondern ein Beziehungsthema. Dies zeigt sich im Zusammenspiel zwischen Eltern und Kind, zwischen Augenoptiker und Eltern sowie zwischen Fakten und Gefühlen. Um die Bereitschaft zur Veränderung zu stärken, ist es empfehlenswert, nicht nur auf Informationen zu setzen, sondern auch Inspiration zu vermitteln.

Außerdem ist Myopie-Management keine kurzfristige Modeerscheinung, sondern ein langfristiger, tiefgreifender Wandel in der Kinderoptometrie. Investieren Sie in Aufklärung, Geräte und Schulungen. So werden Sie zum Gesundheitspartner auf Augenhöhe und zum Zukunftsgestalter für die nächste Generation.

Die gute Nachricht zum Schluss: Eltern sind bereit zu handeln – aber nur, wenn sie auch verstanden, gehört und begleitet werden. Der Umgang mit Myopie ist nicht nur eine Frage der Technik oder des Produkts, sondern vielmehr eine Frage der Beziehung. Genau hier liegt auch die größte Stärke unseres Berufes: Nähe schaffen, Vertrauen aufbauen, Veränderung ermöglichen.

Resümee

Myopie-Management verlangt nach einem neuen Selbstverständnis und entsprechender Aufmerksamkeit in unserer täglichen Arbeit. Wer über den Tellerrand der Brillenabgabe hinausschaut und Kinder ganzheitlich begleitet, leistet mehr als Versorgung – er gibt Orientierung in einer zunehmend digitalen und visuell fordernden Welt. Es geht nicht nur um gutes Sehen. Es geht um die Zukunft der Kinder.


Wegweiser Myopie-Management – Der Status quo

Im Folgenden werden die wichtigsten Erkenntnisse der IMC (International Myopia Conference) 2024 zusammengefasst:

Definition und Bedeutung der Prä-Myopie:

  • Kinder mit weniger als +1,50 dpt Hyperopie im Alter von 6–7 Jahren gelten als hochriskant für eine progressive Myopie.
  • Empfehlung: Früher Start mit präventiven Maßnahmen (z.B. Verhaltensänderung, gegebenenfalls Myopie-Gläser, Kontaktlinsen).

Axiale Längenmessung ist und bleibt der Goldstandard:

  • Axiales Augenwachstum >0,2 mm/Jahr gilt als kritischer Schwellenwert.
  • Längenmessung vor Refraktionsänderungen (gerade bei jüngeren Kindern ist eine verlässliche Aussage über den Erfolg des Myopie-Managements mittels Refraktion nicht valide) – empfohlen für jede Myopie-Kontrolle.

Kombinationstherapien: 

  • Kombination von Ortho-K + niedrig dosiertes Atropin (0,01–0,05%) zeigt anfänglich stärkere Progressionshemmung.
  • Langfristig flacht der additive Effekt ab –
    weitere Studien nötig.

Lifestyle und Umwelt

Tageslichtintensität entscheidend:

  • Neue Studien zeigen: >120 Minuten pro Tag im Freien bei mindestens 1.000 Lux wirkt stark präventiv.
  • Klassenzimmer mit niedrigem Lichtniveau (<500 Lux) steht im Zusammenhang mit höherer Myopie-Rate.

Naharbeit als Risikofaktor bestätigt:

  • <20 cm Leseabstand über längere Zeiträume (>30 Min) signifikant mit Myopie-Progression assoziiert.
  • Empfehlung: 20-20-2-Regel (alle 20 Min. 20 Sek. in die Ferne schauen + 2 Std. Tageslicht täglich)

Innovative Technologien und Ausblick

Red Light Therapy (RLRL):

  • Erste kontrollierte Studien mit Repetitive Low-Level Red Light zeigen signifikante Reduktion des axialen Längenwachstums.
  • Noch keine Langzeitdaten zur Sicherheit und Nachhaltigkeit – Anwendung nur mit strenger Indikation empfohlen.

KI-gestützte Myopie-Prognostik:

  • Prototypen von KI-Systemen können anhand von ­Refraktionsdaten, Axiallänge und familiärer Anamnese das individuelle Risiko sehr präzise berechnen.
  • Ziel: Integration in Screening-Tools und elektronische Patientenakten.

Klinische Praxis & Empfehlungen

Therapieabbrüche und Rebound:

  • DIMS, MiSight, Ortho-K zeigen nur geringe bis keine Rebound-Effekte beim Therapieende – im Gegensatz zu höheren Atropin-Konzentrationen.
  • Wichtig: Sanftes Auslaufen oder schrittweise Umstellung.

Individualisierte Therapiepläne als Empfehlung:

  • One-size-fits-all ist überholt – Kombination aus Axiallänge, Alter, Progressionsrate und Verhalten entscheidend.
  • Therapie-Matching wird zur Standardpraxis.

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